RELIGIONSKRITIK
…und die Zukunft der Religion

Text1
H. Küng – Gott existiert !

“….Ja, Gott existiert. Und man kann auch als Mensch des 20. Jahrhunderts durchaus vernünftig an Gott, sogar an den christlichen Gott glauben. Und vielleicht heute wieder leichter als vor ein paar Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten. Denn nach so vielen Krisen hat sich erstaunlich vieles geklärt, und viele Schwierigkeiten gegen den Gottesglauben haben sich erledigt – auch wenn es manchen noch nicht bewusst ist: Man braucht heute nicht mehr gegen Gott zu sein, weil man für Geozentrik und Evolution, für Demokratie und Wissenschaft, für Liberalität oder Sozialismus ist. Nein man kann geradezu für wahre Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für Humanität, Liberalität und soziale Gerechtigkeit, für humane Demokratie und beherrschten wissenschaftlichen Fortschritt sein, weil man an Gott glaubt. Vor einiger Zeit soll ein englischer Nobelpreisträger auf die Frage, ob er an Gott glaube, geantwortet haben: “Of course not, I am a scientist!” Dieses Buch ist getragen von der Hoffnung, dass eine neue Zeit anbricht wo die Antwort umgekehrt lauten wird: “Of course, I am a scientist! Selbstverständlich, ich bin ein Wissenschaftler!…”
(Küng bezieht sich hier auf den englischen Philosophen und Literatur-Nobelpreisträger B.Russell)
Aus: H. Küng, Existiert Gott ? München 1981, S. 19

Text 2

J. Kahl – es gibt keinen Gott !

“Der Mensch ist nicht das Ebenbild einer überweltlichen und übernatürlichen Gottheit, sondern ein vorbildloses Geschöpf der Natur, all ihren Gesetzen unterworfen. In einer Welt, die nicht für ihn gemacht wurde, muss er sich seinen Weg selbst Bahnen und lernen, allem verderblichen Allmachts- und Unsterblichkeitswahn zu entsagen. Atheismus ist der Abschied von jeglicher Heilslehre und Heilshoffnung, freilich auch von jeglicher Unheilslehre und Untergangsprophetie, mögen sie sich auf ein illusionäres Jenseits oder auf das Diesseits beziehen. Menschliches Leben heißt: sich für eine kurze Zeitspanne erträglich einrichten auf einem Staubkorn im Weltall – mit Würde und Anstand und Humor. Vielleicht gelingt es doch noch den Erdball bewohnbar zu gestalten!? Die gesellschaftlichen Verhältnisse lassen sich jedenfalls schrittweise verbessern. Universale Gerechtigkeit und die Versöhnung von Mensch und Natur bleiben allerdings unerreichbar.”

J. Kahl, Warum ich Atheist bin

Text 3
Albert Einstein
(1879-1955), deutsch-amerikanischer Physiker und Nobelpreisträger. Er ist der wohl berühmteste Naturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts.

Doch die wissenschaftliche Methode kann uns nichts weiter lehren, als Tatsachen in ihrer gegenseitigen Bedingtheit begrifflich zu erfassen. Das Streben nach solch objektiver Erkenntnis gehört zu dem Höchsten, dessen der Mensch fähig ist, und ich werde bei Ihnen wohl kaum in den Verdacht geraten, die Errungenschaften und heroischen Bemühungen des Menschengeistes auf diesem Gebiet verkleinern zu wollen. Aber ebenso klar ist es, dass von dem, was ist, kein Weg führt zu dem, was sein soll. Aus der noch so klaren und vollkommenen Erkenntnis des Seienden kann kein Ziel unseres menschlichen Strebens abgeleitet werden.
Die objektive Erkenntnis liefert uns mächtige Werkzeuge zur Erreichung bestimmter Ziele. Aber das allerletzte Ziel und das Verlangen nach seiner Verwirklichung muss aus anderen Regionen stammen. Dass unser Dasein und unser Tun nur durch die Aufstellung eines solchen Ziels und entsprechender Werte einen Sinn erhält, braucht gewiss nicht weiter erörtert zu werden.
Uns diese fundamentalen Ziele und Werte aufzustellen und sie im täglichen Leben des Einzelnen zu befestigen, scheint mir nun die wichtigste Funktion der Religion im sozialen Leben der Menschen zu sein. Fragt man aber, woher die Autorität dieser fundamentalen Ziele stammt, wenn sie doch von der Vernunft nicht gesetzt und begründet werden können, so kann man nur antworten: sie sind in einer gesunden Gemeinschaft als Traditionen lebendig und bestimmen das Verhalten, das Streben und die Urteile des Einzelnen, das heißt also, sie sind als Kräfte wirksam, deren Dasein keiner Begründung bedarf.”
(Aus: A. Einstein, Aus meinen späten Jahren, Stuttgart 1952)

Text 4
Steven Weinberg lehrt theoretische Physik an der University of Texas in Austin. Er erhielt 1979 den Physik-Nobelpreis.
Aus einem Spiegel – Interview ; der Spiegel 30/1999

Spiegel: Wenn die Weltformel denn gefunden würde, was würde das für die Religion bedeuten? Würde sie Gott ersetzen?
Weinberg: Nein. Wir ersetzen Gott nicht. Wir sparen ihn nur aus. Die Weltformel wäre der letzte Schritt auf einem Weg, den Newton und Kopernikus als erste beschritten haben: ein Bild der Welt zu entwickeln, das ohne Gott auskommt. Ein Gott würde auch durch eine Weltformel nicht unmöglich gemacht, aber es wäre ein sehr anderer Gott als der alte, der mit Blitzen um sich schleudert …
Spiegel: … ein Physiker, der die schönste aller Formeln ersonnen hat?
Weinberg: Ich persönlich habe nicht viel übrig für Religion. Für mich ist eine der großen Errungenschaften der Wissenschaft, dass sie es intelligenten Menschen zwar nicht unmöglich gemacht hat, religiös zu sein. Aber sie macht es ihnen möglich, nicht religiös zu sein. Und darauf bin ich stolz.
Spiegel: Würde die Weltformel den Sinn der Welt klären können? Die Frage, warum es uns gibt?
Weinberg: Die Frage, warum es uns gibt, hat Darwin beantwortet -allerdings nur als Folge von Ursache und Wirkung. Welchen Sinn unsere Existenz hat, konnte er nicht sagen. Wahrscheinlich ist diese Frage ihrerseits sinnlos, weil es keinen Sinn gibt. Die Weltformel wird mit uns Menschen nichts zu tun haben. Sie wird uns die Welt kalt und unpersönlich erscheinen lassen. Wir können uns selbst einen Sinn geben – in der Natur werden wir ihn nicht finden.

Sigmund Freud zur Religion
Diese (religiösen Vorstellungen), die sich als Lehrsätze ausgeben, sind nicht Niederschläge der Erfahrung oder Endresultate des Denkens, es sind Illusionen, Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit; das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche. Wir wissen schon, der schreckende Einfluss der kindlichen Hilflosigkeit hat das Bedürfnis nach Schutz, Schutz durch Liebe erweckt, dem der Vater abgeholfen hat, die Erkenntnis von der Fortdauer dieser Hilflosigkeit durchs ganze Leben hat das Festhalten an der Existenz eines aber nun mächtigeren Vaters (nämlich Gott) verursacht.
Durch das gütige Walten der göttlichen Vorsehung wird die Angst vor den Gefahren des Lebens beschwichtigt, die Einsetzung einer sittlichen Weltordnung versichert die Erfüllung der Gerechtigkeitsforderung, die innerhalb der menschlichen Kultur so oft unerfüllt geblieben ist, die Verlängerung der irdischen Existenz durch ein zukünftiges Leben stellt den örtlichen und zeitlichen Rahmen bei, in dem sich diese Wunscherfüllungen vollziehen sollen.
Antworten auf Rätselfragen der menschlichen Wissbegierde, wie nach der Entstehung der Welt und der Beziehung zwischen Körperlichem und Seelischem, werden unter den Voraussetzungen dieses Systems entwickelt; es bedeutet eine großartige Erleichterung der Einzelpsyche, wenn die nie ganz überwundenen Konflikte der Kinderzeit aus dem Vaterkomplex ihr abgenommen und einer von allen angenommenen Lösung zugeführt werden…
Eine Illusion ist nicht dasselbe wie ein Irrtum, ist auch nicht notwendig ein Irrtum… Für die Illusion bleibt charakteristisch die Ableitung aus menschlichen Wünschen, sie nähert sich in dieser Hinsicht der psychiatrischen Wahnidee…
An der Wahnidee heben wir als wesentlich den Widerspruch gegen die Wirklichkeit hervor, die Illusion muss nicht notwendig falsch, d. h. unrealisierbar oder im Widerspruch mit der Realität sein. Ein Bürgermädchen kann sich zum Beispiel die Illusion machen, dass ein Prinz kommen wird, um sie heimzuholen. Es ist möglich, einige Fälle dieser Art haben sich ereignet.
Dass der Messias kommen und ein goldenes Zeitalter begründen wird, ist weit weniger wahrscheinlich, je nach der persönlichen Einstellung des Urteilenden wird er diesen Glauben als Illusion oder als Analogie einer Wahnidee klassifizieren…
Wir heißen also einen Glauben eine Illusion, wenn sich in seiner Motivierung die Wunscherfüllung vordrängt und sehen dabei von seinem Verhältnis zur Wirklichkeit ab, ebenso wie die Illusion selbst auf ihre Beglaubigung verzichtet. Wenden wir uns nach dieser Orientierung wieder zu den religiösen Lehren, so dürfen wir wiederholend sagen: Sie sind sämtlich Illusionen, unbeweisbar, niemand darf gezwungen werden, sie für wahr zu halten, an sie zu glauben. Einige von ihnen sind so unwahrscheinlich, so sehr im Widerspruch zu allem, was wir mühselig über die Realität der Welt erfahren haben, dass man sie mit entsprechender Berücksichtigung der Unterschiede den Wahnideen vergleichen kann.
Über den Realitätswert der meisten von ihnen kann man nicht urteilen. So wie sie unbeweisbar sind, sind sie auch unwiderlegbar. Man weiß noch zu wenig, um ihnen kritisch näher zu rücken…
Die wissenschaftliche Arbeit ist für uns der einzige Weg, der zur Kenntnis der Realität außer uns führen kann. Die Erkenntnis des historischen Werts gewisser religiöser Lehren steigert unseren Respekt vor ihnen, macht aber unseren Vorschlag, sie aus der Motivierung der kulturellen Vorschriften zurückzuziehen, nicht wertlos. Im Gegenteil! Mit Hilfe dieser historischen Reste hat sich uns die Auffassung der religiösen Lehrsätze als gleichsam neurotischer Relikte ergeben und nun dürfen wir sagen, es ist wahrscheinlich an der Zeit, wie in der analytischen Behandlung des Neurotikers, die Erfolge der Verdrängung durch die Ergebnisse der rationalen Geistesarbeit zu ersetzen. Dass es bei dieser Umarbeitung nicht beim Verzicht auf die feierliche Verklärung der kulturellen Vorschriften bleiben wird, dass eine all gemeine Revision derselben für viele die Aufhebung zur Folge haben muss, ist vorauszusehen, aber kaum zu bedauern. Die uns gestellte Aufgabe der Versöhnung der Menschen mit der Kultur wird auf diesem Wege weit gehend gelöst werden.
(aus: S. Freud, Gesammelte Werke in 18 Bänden, Bd. 14)

Aufgaben:

Beschreibe die im Text erläuterte Entstehung religiöser Vorstellungen!
Was versteht Freud unter einer Illusion?
Welchen Wert besitzt für ihn die Religion?

Ludwig Feuerbach: Gott als Projektion des menschlichen Wesens

Feuerbachs Religionskritik lässt sich ganz allgemein als ein Versuch charakterisieren, alles Übernatürliche in den Religionen auf seine natürlichen Fundamente zurückzuführen. Sein Ziel war:

1. aufzuzeigen, dass die Inhalte der Religion nicht das sind, als was sie in der Theorie dargestellt werden, nämlich übernatürliche und übermenschliche Geheimnisse.
2. dem Menschen zu helfen, seine Energien nicht an ein illusionäres Konstrukt zu verlieren, sondern sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und die Welt nach seinen ureigenen Bedürfnissen zu gestalten.

Feuerbachs Kritik ist im Blick auf das Christentum dennoch nicht zerstörerisch gemeint gewesen. Seine Aufgabe ist, wie er in einer Vorlesung zu seinen Studenten sagt:
„Sie aus Gottesfreunden zu Menschenfreunden, aus Gläubigen zu Denkern, aus Betern zu Arbeitern, aus Candidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits, aus Christen, welche ihrem eigenen Bekenntnis und Geständnis zufolge , halb Thier, halb Engel sind, zu Menschen, zu ganzen Menschen zu machen!”

Feuerbachs Lehre ist folgende:
die Theologie ist Anthropologie, d.h. der Gott des Menschen ist nichts anderes als das vergötterte Wesen (vergöttertes Selbst) des Menschen, also eine Projektion. Denn die Religionen sind so verschieden, wie die Menschen verschieden sind.
Diese Lehre hat Feuerbach zuerst in seiner Schrift ,Das Wesen des Christentums’ entwickelt. Später aber hat er eingesehen, dass in seiner Lehre die Natur unberücksichtigt blieb. Im ,Wesen der Religion’ zeigt er, dass der physische Gott das vergötterte, personifizierte Wesen der Natur ist.
Seine Lehre kann also auf folgende Kurzformel gebracht werden: die Theologie ist Anthropologie und Physiologie. Seine Lehre fasst sich daher in die zwei Worte Natur und Mensch zusammen.
Die Natur ist die Ursache und der Grund des Menschen. Das Wesen aber, in dem die Natur ein persönliches, bewusstes Wesen wird, heißt Mensch. Feuerbach geht davon aus, dass der Mensch sein Leben für das höchste Gut hält. Der Mensch will zwar selig, unabhängig und allmächtig sein, hat aber genügend Gelegenheiten festzustellen, dass er es nicht ist. Die tägliche Erfahrung der Bedürftigkeit nach Licht, Luft, und Nahrung festigen im Menschen das Gefühl elementarer Abhängigkeit. Das Abhängigkeitsgefühl ist nur eine andere Bezeichnung für das Endlichkeitsgefühl. Wenn der Mensch ewig lebte, so wäre auch keine Religion. Im Christentum deutet eine Reihe von Erscheinungen des religiösen Lebens für Feuerbach auf das Furchtmotiv. Warum flehen die Menschen während der Erntezeit inständig um gutes Wetter, wenn nicht aus einer Furcht vor der Hungersnot? so fragt er.
Das Abhängigkeitsgefühl ist der einzige richtige Name zur Bezeichnung und Erklärung des psychologischen oder subjektiven Grundes der Religion.
Allerdings gibt es in der Wirklichkeit kein Abhängigkeitsgefühl als solches, sondern immer nur bestimmte Gefühle wie Hunger, Todesfurcht, Trauer, in denen sich der Mensch abhängig fühlt. Für das Abhängigkeitsgefühl gilt deshalb in verstärktem Maße, was bereits für das unbestimmte Gefühl der Endlichkeit galt: Was dem Menschen ein Bedürfnis ist, das ist ihm Gott. Das Wesen, das in der Religion als Gott unabhängig vom Menschen existiert, ist in Wirklichkeit die Natur. Der Mensch verdankt der Natur seine Existenz; sie ist der Grund seines Abhängigkeitsgefühls.
Feuerbach versucht seine religionsphilosophischen Hypothesen an Hand des historischen Materials zu begründen, dass es in den Religionen zunächst immer um die Vergottung der Natur geht, wobei allerdings meistens die Natur für ein fremdes Wesen gehalten wird, das sie nicht ist. Die Eigenschaften Gottes, sowohl die physischen als auch die moralischen, sind in Wirklichkeit Prädikate der Natur. Zorn, Gerechtigkeit, Macht, Güte und Unendlichkeit sind Namen, die von Erscheinungen der Natur abgeleitet sind. So ist die Güte Gottes von den guten und die Gerechtigkeit von den schädlichen Wirkungen der Natur abgezogen. Gott ist von der Natur abstrahiert worden, so dass die Natur das Original, Gott die Kopie ist.
Die Religion hat einen praktischen Zweck und Grund; der Trieb, aus dem die Religion hervorgeht, ist der Glückseligkeitstrieb. Der Mensch verehrt und betet die Götter nur an, damit sie seine Wünsche erfüllen und damit er durch sie glücklich ist. Die Mittel, mit denen der religiöse Mensch seine Wünsche durchsetzen will, zeigen, dass in der Religion das Wesen des Menschen verehrt wird:
1. In den Opfern und Gebeten zeigt sich, dass die Befriedigung eines … Bedürfnisses der Grund ist, warum ein Mensch sich religiös verhält.
2. Gott ist letztlich identisch mit der Zielvorstellung, die der … religiöse Mensch von sich selbst hat.
Als Beispiel führt Feuerbach den psychologischen Gottesbeweis an. Das Wissen, Wollen und Können des menschlichen Geistes ist mangelhaft, beschränkt; das Beschränkte, Unvollkommene setzt aber etwas Unbeschränktes, Unendliches voraus; also setzt der endliche Geist einen unendlichen als seinen Grund voraus; dieser ist Gott.
Die Menschen wünschen allwissend, allmächtig zu sein. Daher haben sie in Gott das menschliche Wesen vergegenständlicht. Gott, der unendliche Geist, ist das Vor- und Musterbild von dem, was sie einst selbst werden wollen, das Grund-, Abbild ihres eigenen, in der Zukunft sich entfaltenden Wesens. Die Quelle der Religion ist die Phantasie, die Einbildungskraft. Der Mensch macht alle möglichen Gegenstände kritiklos zu seinen Göttern. In Umkehrung eines Satzes aus der Bibel kommt Feuerbach zu dem Schluss: “Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde.”
Selbstverständlich schafft die Phantasie ihre Bilder nicht aus nichts, sondern entzündet sich vornehmlich an den Erscheinungen der Natur, von denen der Mensch sich am meisten abhängig fühlt. Die Phantasie ist eng verbunden mit dem Abstraktionsvermögen. Denn nur durch die Einbildungskraft verselbständigt der Mensch die abstrakten, allgemeinen Begriffe, deutet sie als Wesen.
(Quelle: Bernward Oberstufenkurs, Die Frage nach Gott heute, Hildesheim 1990, S.18f., leicht verändert)

Grundgedanken
Ausgangspunkt
a) Feuerbach erkennt die Unversöhnlichkeit zwischen christlichem Glauben und der Philosophie
b) Der Mensch leidet am Zwiespalt zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen der Unendlichkeit (Gottes) und der Endlichkeit (seines Wesens)
c) Der Ausgangspunkt allen Philosophierens muss der Mensch sein, und zwar der konkrete, sinnliche, soziale Mensch. Der Mensch ist das Maß aller Dinge und der Wahrheit.
Ziel
d) Aufhebung des o.g. Widerspruchs in der Wirklichkeit, indem man Gott vermenschlicht und verwirklicht.
e) Rückführung des menschlichen Geistes auf die Sinnlichkeit, das sinnliche Empfinden des Menschen (anthropologischer Materialismus), um eine Einheit von Körper und Geist herzustellen.
f) Aufhebung des Unendlichen im Endlichen als Umkehrung von Hegels Philosophie

Wesen Gottes
1) Das Bewusstsein des Unendlichen ist nichts anderes als das Bewusstsein von der Unendlichkeit des Bewusstseins
2) Das Bewusstsein Gottes ist damit das Selbstbewusstsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen.
3) Gott ist der verselbständigte Gattungsbegriff, das offenbare und ausgesprochene Innere, das öffentliche Bekenntnis seiner Liebesgeheimnisse und seiner Ängste, die er aus sich heraus projiziert.
4) Gott ist die Projektion des menschlichen Verstandes (Intelligenz), Willens (Vollkommenheit, Gerechtigkeit) und Herzens (Liebe). Die Phantasie des Menschen macht aus Kräften, Trieben, Bedürfnissen, Wünschen, Idealen ein reales Wesen: Gott, der sie in vollkommener Weise verkörpert. Wesen der Religion
5) Religion ist das Verhalten des Menschen zu seinem Wesen als zu einem anderen Wesen.
6) In der Religion spaltet der Mensch sein endliches, individuelles Wesen vom unendlichen Gattungswesen ab, schmückt das letztere mit dem wertvollsten aus und betet es als Gott an.
7) Diese falsche Unterscheidung zwischen menschlichen und göttlichen ( = übermenschlichen) Prädikaten führt dazu, dass sich das Individuum minderwertig und sündhaft fühlt und der andere Teil des Ichs als Gott überhöht wird (das Gattungswesen).
8) Die Folge ist die Selbstzerissenheit, Entfremdung und Verarmung des Menschen, z.B. durch die Trennung von Körper und Geist, Jenseits statt Diesseits.
Schlussfolgerungen
9) Der Untergang der Religion im Säkularisierungsprozess. Entwicklungsgang der Religion: am Anfang führt der Mensch alles und jedes auf Gott zurück, im Laufe der Geschichte immer weniger, und diesen Prozess gilt es zu vollenden.
10) Das Geheimnis der Theologie ist die Anthropologie (wozu sie in Wahrheit sowieso schon längst geworden ist).
11) Die Leugnung der Existenz Gottes bedeutet keine Negation der Werte, die sich mit ihm verbinden, der Atheismus ist vielmehr der wahre Humanismus.
12) Homo homini deus est. (Der Mensch ist des Menschen Gott.) Unmittelbare Anbetung des Menschen durch den Menschen. Menschenliebe statt Gottesliebe, ursprüngliche statt abgeleiteter Liebe. Diesseits statt Jenseits. Alles zum Wohle des Menschen und seiner Einheit => Anthropotheismus.
13) Ersetzung des Gottesbegriffs durch die menschliche Gattung. Dies stellt den Wendepunkt der Weltgeschichte dar.

Interview mit dem Physiker Stephen Hawking:

Hawking: Ich habe gezeigt, dass die Entstehung des Universums so ablaufen kann, dass sie den Gesetzen der Physik folgt. In diesem Fall wäre es überflüssig, Gott anzurufen, um zu erfahren, wie das Universum begann. Das ist kein Beweis, dass es Gott nicht gibt. Es bedeutet nur, dass Gott nicht notwendig ist.
Spiegel: Glauben Sie an Gott oder an die Vorstellung irgendeiner höheren Macht?
H.: Ich glaube nicht an einen persönlichen Gott.
Sp.: Heißt das, dass Sie an einen unpersönlichen Gott glauben?
H.: Wenn Sie wollen, können Sie sagen, Gott sei die Verkörperung der physikalischen Gesetze, aber das ist nur verwirrend, da die meisten Menschen das Wort Gott mit einem Wesen verbinden, zu dem man eine persönliche Beziehung haben kann. Die Gesetze der Physik aber haben wenig Persönliches an sich.
Sp.: Wenn aber selbst etwas so Flüchtiges wie etwa Energie oder sogar die Zeit nach Ihrer Ansicht ewig ist, wie steht es dann mit anderen Erscheinungen von ähnlicher Flüchtigkeit, etwa unserem Geist oder unserem Bewusstsein? Könnten sie nicht auch auf irgendeine Art ewig sein?
H.: Für mich ist ein Mensch eher einem Computer vergleichbar. Sicher etwas komplizierter als die Computer, die wir heute haben. Aber ich glaube nicht, dass jemand auf die Idee käme, ein Computer besäße eine unsterbliche Seele.
Sp.: Skeptiker meinen, dass der kleine Computer, den wir in unseren Köpfen tragen, einfach nicht gut genug sei, um letzte Fragen zu beantworten, wie etwa die: Warum gibt es ein Universum, und warum gibt es als Folge dieses Universum menschliches Leben?
H.: Ich glaube, wir haben eine gute Chance, die Gesetze zu entdecken, die das ganze Universum regieren. Aber damit haben wir noch keine Antwort auf die Frage: Warum existiert das Universum? Vielleicht ist das ja eine sinnlose Frage.
Sp.: Sie kann so sinnlos nicht sein. Sie selbst sagen in Ihrem Buch, dass die Antwort auf die Frage, warum das Universum existiere, der endgültige Triumph menschlicher Vernunft wäre – dann nämlich könnten wir Gottes Plan erkennen. Was meinten Sie damit?
H.: Vielleicht gibt es keine Antwort auf die Frage, warum das Universum existiert. Aber wenn es eine Antwort gäbe und wir würden sie finden, wüssten wir so viel wie Gott.
Sp.: Einstein hat einmal gesagt: »Gott würfelt nicht.« Sie sagen: »Manchmal wirft Gott die Würfel so, dass man sie nicht einmal sehen kann.« Was soll diese höchst kryptische Bemerkung bedeuten?
H.: Das war eine Wortspielerei für die Experten. Einstein wollte deutlich machen, dass ihm das Zufallselement in der Quantenmechanik widerstrebte. Aber genau dieses zufällige Verhalten kann man in der Natur beobachten Und in Schwarzen Löchern gibt es sogar einen noch höheren Grad an Unsicherheit – man kann die Zufallsereignisse, die sich innerhalb von Schwarzen Löchern ereignen, nicht beobachten…”
(Aus”Spiegel” 42/1988)

„Sehnsucht nach dem Anderen”
Auszug aus einem “Spiegel”- Gespräch mit Max Horkheimer über die Zukunft der Religion

Max Horkheimer (1895-1973), deutscher Philosoph und Soziologe. Vertreter einer kritischen, marxistisch orientierten, Gesellschaftstheorie (Frankfurter Schule). In diesem Interview ist eine deutliche Skepsis gegenüber der Vernunft zu erkennen.

Woher wissen die denkenden Menschen, was gut ist?
Ich habe geschrieben, dass Politik welche nicht Theologie oder Metaphysik, damit natürlich auch Moral, in sich bewahrt, letzten Endes Geschäft bleibt.
Gute, moralische Politik sei also, meinen Sie, nicht ohne Theologie möglich?
Zumindest nicht ohne Gedanken an ein Transzendentes.
Was meinen Sie damit?
Erst einmal möchte ich über die Kritiker der Theologie sprechen, die Positivisten also und deutlich machen, dass sich aus der Position des Positivismus keine moralische Politik ableiten lässt. Wissenschaftlich betrachtet, ist Hass bei aller sozial funktionellen Differenz nicht schlechter als Liebe. Es gibt keine wissenschaftliche Begründung, warum ich nicht hassen soll, wenn ich mir dadurch in der Gesellschaft keine Nachteile zuziehe. Alles, was mit Moral zusammenhängt, geht logisch letzten Endes auf Theologie, jedenfalls nicht auf säkulare Gründe zurück, wie sehr man sich auch bemühen mag die Theologie behutsam zu fassen.
Also auf Gott?
Zumindest – darin gehe ich mit Kant und Schopenhauer einig – weiß ich dass die Welt Erscheinung ist. Wie wir sie kennen ist sie nicht absolut sondern Ordnungsprodukt unserer intellektuellen Funktionen. Jedenfalls ist sie nicht das Letzte.
Und was ist das Letzte?
Religion lehrt, dass es einen allmächtigen und allgütigen Gott gibt. Ein kaum glaubhaftes Dogma angesichts des Grauens, das seit Jahrtausenden auf dieser Erde herrscht!
Und?
Ich würde sagen, man solle Theologie erneuern. Es ist keine Gewissheit, dass es einen allmächtigen Gott gibt. Ja wir können es nicht einmal glauben, angesichts dieser Welt und ihres Grauens.
Was bleibt dann?
Die Sehnsucht.
Wonach?
Sehnsucht danach, dass es bei dem Unrecht, durch das die Welt gekennzeichnet ist, nicht bleiben soll, dass das Unrecht nicht das letzte Wort sein möge. Diese Sehnsucht gehört zum wirklich denkenden Menschen.
Also eine neue Religion?
Nein, wir können nicht eine neue Religion gründen. Mögen die alten Konfessionen weiter existieren und wirken in dem Eingeständnis, dass sie eine Sehnsucht ausdrücken und nicht ein Dogma.
Glauben Sie, dass eine solche Sehnsucht ausreicht, um moralisches Handeln zu ermöglichen, zumal auf einem Feld wie dem der Politik? Vor sechs Jahren haben Sie in einem Aufsatz für Ihren Freund Adorno geschrieben: “Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel.” Das führt zu der Frage: Wenn es keinen Gott gäbe, und wenn es infolgedessen keinen unbedingten Lebens-Sinn gäbe – worauf sollte sich dann der Moralist in der Politik berufen können?
Auf Gott berufen? Das können wir nicht. Zumindest ist das meine Auffassung: Wir können nicht behaupten, es gäbe einen guten und allmächtigen Gott. Aber Sie haben ganz recht, dann kann man sich also auch nicht auf Gott berufen. Man kann nur handeln mit dem inneren Antrieb, möge es so sein . . .
Möge es so sein, dass es einen guten Gott gibt?
Adorno und ich – wer von uns beiden es zuerst formuliert hat, weiß ich heute nicht mehr -, auf jeden Fall haben wir beide nicht mehr von Gott, sondern von der “Sehnsucht nach dem Anderen” gesprochen.
Diese Behutsamkeit im Umgang mit Gottes Namen ist – wie häufig festgestellt – jüdisches Erbe.
Ja. Und zwar auch in der Weise, dass diese Behutsamkeit in unsere Gesellschaftstheorie, die wir die kritische nannten, eingegangen ist. “Du sollst Dir kein Bild von Gott machen” heißt es in der Bibel. Du kannst nicht darstellen, was das absolute Gute ist. Der fromme Jude versucht, das Wort “Gott” nach Möglichkeit zu vermeiden, ja er schreibt es nicht aus, sondern macht ein Apostroph. So nennt auch die Kritische Theorie das Absolute vorsichtig “das Andere”. Was mich bewegt, ist die theologische Idee angewandt auf eine vernünftige Theorie der Gesellschaft.”

Aus: Der Spiegel, Nr. 1/2/1970.

Aufgaben:
1. “Sehnsucht nach dem Anderen” – eine andere Bezeichnung für Gott ?
2. Theologie und kritische Theorie der Gesellschaft – Versuchen Sie den Satz von Horkheimer zu erklären: “Was mich bewegt, ist die theologische Idee angewandt auf eine vernünftige Theorie der Gesellschaft.”
3. Können Sie dieser Auffassung zustimmen?

“Religion ist ein Ort von Hoffnung”
Mit der Zeitschrift “Diesseits” führte er im Jahr 2000 ein Interview, wo er sich zu Religion, Kirche und Zukunft der Religion äußerte. Hier ein kurzer Ausschnitt:

Eugen Drewermann: “…Mit der katholischen Kirche, die in meinen Augen einen fundamentalistischen Dogmatismus verwaltet, habe ich geistig und arbeitsmäßig große Schwierigkeiten, denn sie unterdrückt jede Aktivität, die sie nicht kontrollieren kann.
Ich sehe zwischen Psychotherapeuten und religiös existierendem Menschsein keinen Gegensatz. Ganz im Gegenteil. Ich glaube, das Christentum ist im Unterschied zum Judentum oder Islam, die Gesetzesreligionen sind, eine therapeutische Religion: Jesus hat, wie man beim Lesen im Neuen Testament sieht, nicht nebenbei, sondern ganz zentral, Menschen geheilt. Er schaffte es, von Gott so gütig zu sprechen, dass sich darunter die Angst im Menschen legte, die bis in die Seele, bis in den Körper hinein krankheitsverursachend wirken kann. Das müssten wir in unserem Jahrhundert dringend nachbilden, so dass eine Synthese dessen, was im 20. Jahrhundert Psychotherapie geheißen hat und dem, was Religion werden könnte, mir überaus dringlich scheint.
Die Menschen haben an Kirche kein Interesse mehr, die mehr Neurosen produziert als heilt und die statt Menschen zu befreien, ihnen einen äußeren Zwang auferlegt. Ein System der unfehlbaren Offenbarung und des absoluten Wissens. Man sollte nur auf die Amtsträger, die Bischöfe und den Papst hören, um zu wissen, was Gott gesagt hat. Das kann heute nicht mehr funktionieren. Aber eine Religion, die den Menschen mündig macht, die seine Person stärkt, die Freiheit ernst nimmt die den Dialog unter den Menschen als einen kreativen Prozess der Erkenntnis versteht, hat Zukunft. Die möchte ich fördern in jeder Weise.
Diesseits: Warum dann aber Religion? So wie Sie Religion beschreiben, ist sie im Grunde Psychoanalyse, aber atheistisch-humanistisch. Wofür brauchen Sie und die Menschen die Vorstellung vom persönlichen Gott?
Eugen Drewermann: Der Atheismus – naturwissenschaftlich und auch im Werke Sigmund Freuds – ist mir überaus verständlich. Ich habe ein neues Buch heraus gebracht unter dem Titel “Und es geschah so” über das Verhältnis von Biologie und Theologie. Ich zeige darin, dass das Gottesbild der herkömmlichen christlichen Theologie Atheismus produzieren muss. Man hat die biblische Gottesvorstellung mit griechischer Naturphilosophie zusammengebracht und daraus ein metaphysisches Gottesbild abgleitet, nachdem Gott allweise, allgütig und allmächtig ist. Bei diesen Erwartungen kann die Enttäuschung nur dramatisch sein. Die Welt ist nicht gütig, alles andere als weise. Und unterliegt keinem durchgängigen Plan. Die Biologen können an jeder Stelle heute zeigen, dass das definitiv nicht der Fall ist. Nicht weil wir einiges nur noch nicht genau genug erkannt hätten, sondern weil wir es ziemlich genau kennen, wird das alte Erklärungsbild ad absurdum geführt. Zwischen dem Darwinismus, heute Pflicht im Biologieunterricht der Zwölfjährigen und dem, was sie in der Religionsstunde danach präsentiert bekommen, gibt es logisch einen diametralen Gegensatz. In den hinein greift der Atheismus völlig berechtigt.
Die DDR hat mit Leichtigkeit in ihrer Kulturpolitik diese Widersprüche ausnutzen können. Das selbe Problem hatten wir in den westlichen Bundesländern aber ganz genauso. Über 500 verordnete Religionsstunden produzieren Atheismus. Je besser man die Religion begreift, desto weniger kann man verstehen, wie dies mit den Naturwissenschaften übereinstimmen soll und umgekehrt.
Was Sigmund Freud angeht, ist der Atheismus für ihn eine Erfahrungstatsache. Die Menschen kommen und reden von Gott. Je länger man mit ihnen spricht, je besser man sie begreift, wird deutlich, dass sie unter Gott die Ängste ihrer Kindertage verstanden haben, infantile Bindungen, verzweifelte Suche nach Liebe, die ständige Untertänigkeit unter Ersatzautoritäten. Das muss abgebaut werden und hat kein Recht mehr sich zu beglaubigen. Für mich hat Freud etwas geleistet so wie Elias, der die Götzen Kanaans bekämpft hat. Lauter vergegenständlichte Vorstellungen, die dann dem Menschen zum Zwangssystem werden. Mit einem Wort: Der Atheismus hat eine äußerst reinigende und wichtige Funktion. Er beantwortet aber nicht die Fragen, die wir Menschen wirklich haben. Wir Menschen wollen als Erstes gar nicht wissen, ob jene Hypothese in Physik oder Biologie zutrifft. Die Religion ist nicht nötig, um die Natur zu erklären, sie ist aber nötig, um die Welt und die Stellung des Menschen in ihr zu verstehen. Die Religion ist eine hermeneutische, keine naturwissenschaftliche Größe.
Diesseits: Ist für Sie die Bibel ein offenbartes Wort Gottes? Oder ist sie eine kulturhistorische Leistung der Menschen auf ihrem Weg zum Menschsein, in der viele Ängste und Probleme von Menschen aufgegriffen werden?
Eugen Drewermann: Das beides ist das Selbe. Ich glaube nicht, dass Offenbarung sich verstehen lässt in der Art, dass da von außen irgend jemand durch ein unsichtbares Mikrofon geraunt hätte. Nein, Offenbarung besteht darin, dass Menschen die Rollos hochziehen und die Sonne hineinlassen. Das sind Menschen, die sich durch die Angst nicht ins Bockshorn jagen lassen, sondern die Angst widerlegen, sich nicht verheddern in den immer gleichen Reaktions- und Fluchtschemata, sondern kreativ darüber hinausblicken. Das tut Buddha. Er widerlegt das Leid durch seine Stille. Das tut Jesus. Er widerlegt den Hass durch seine Liebe. Das sind Schritte zum Menschsein und Offenbarungen. Die Bibel ist kein historisches Informationsbuch. Das wusste schon Spinoza. Das ist wirklich nicht neu. Man kann Gott nicht vergegenständlichen, ohne Aberglauben zu züchten. Die Weihnachtserzählung ist nicht historisch. Sehr wichtig wäre es zu zeigen, dass es wunderbare Symbole sind, in der Nacht das Licht zu sehen und inmitten der Stalinorgeln den Gesang der Engel zu hören, da wo im Grunde nichts ist als die übliche Armut, die Ankunft eines Gottessohnes zu erblicken: Das sind Wahrnehmungen des Herzens. Das wusste nun schon Meister Eckhard im 14. Jahrhundert. Theologen sollten nach einem halben Jahrtausend nicht immer noch denselben Unsinn quatschen. Entweder ist etwas real, weil es hier ist, wie eine Tasse Kaffee, oder irreal – und dann ist es nur fantasiert. Menschsein besteht darin, Träume zu haben, die wirklicher sind, als die gottverdammte Wirklichkeit. Religiöse Visionen widerlegen das, was wir “wirklich” nennen. Nur deshalb ist Religion ein Ort von Hoffnung.
Diesseits: Dann ist Gott nur irreal?
Eugen Drewermann: Dann ist Gott Teil der Subjektivität, die wir brauchen, um als Subjekte zu leben. Er ist das absolute Subjekt. Die ganze Theologie des 20. Jahrhunderts hat eigentlich nur einen einzigen Glaubenssatz: Gott ist das Subjekt, das nie zum Objekt wird. Darin hat sie Recht.
Diesseits: Fühlen Sie sich eigentlich wohl bei den reformierten Protestanten, wo sie die katholische Kirche doch als sehr reformbedürftig ansehen?
Eugen Drewermann: Ich weiß nicht, ob diese Gegensätze noch einen Sinn machen. Darum sag ich: Wir sollten Protestanten werden, um Katholiken bleiben zu können. Aber ich sag´ auch: Wir sollten Buddhisten werden, um bessere Christen zu sein.

Aufgaben:

Drewermann übt in diesem Interview heftige Kritik an der gegenwärtigen Praxis der Religion in unserer Gesellschaft. Worauf beruht diese Kritik?
Erklären Sie sein Verständnis für den Atheismus !
Auch der Religionsunterricht wird in diesem Zusammenhang angesprochen. Ist das für Sie schlüssig? Deckt sich dies mit eigenen Erfahrungen?
Warum hält Drewermann an der Religion (und der Kirche) fest ?

J. Kahl
Das Elend des Christentums
oder: Plädoyer für eine Humanität ohne Gott

Zwar wäre es zur Zeit verfrüht und zu stark vereinfacht, wollte man formulieren: Das Christentum ist heute ein Leichnam, der nur noch dank der künstlichen Sauerstoffzufuhr seitens interessierter Politiker, Theologen und Kirchenfunktionäre den Anschein von Lebendigkeit zu erwecken vermag. Dennoch lässt sich der immer größer werdende Substanz- und Funktionsverlust des Christentums schwerlich übersehen. Je mehr die Glaubwürdigkeit und Motivationskraft der tröstlichen Mythologeme schwand, um so mehr gewann der kulturelle Apparat der Gesellschaft an Bedeutung. Die Frustrationen einer inhumanen Arbeitswelt werden heute vorwiegend nicht mehr mit Hilfe religiöser Illusionen ertragen, sondern unter dem betäubenden Schwall einer allgegenwärtigen Bewusstseins- und Vergnügungsindustrie.
Gleichwohl gelang es unter dem Kapitalismus bisher nur wenigen Individuen, sich völlig aus dem Bann der überkommenen religiösen Rituale und Mysterien zu befreien. Zwar beteiligen sich die meisten Menschen nicht mehr aktiv und regelmäßig am kirchlichen Betrieb, treten aber andererseits nicht aus der Kirche aus und erhoffen immer noch bewusst oder unbewusst etwas vom Christentum. Dieser Erwartungshorizont reicht vom Wunsch, gewisse Lebensdaten festlich gerahmt zu sehen – der Pfarrer als ehrwürdiger Zeremonienmeister -, bis zum Verlangen, das Abendland vor dem Kommunismus zu bewahren – die Kirche als Gralshüterin von Sitte und Ordnung. Diese frommen Flausen sind der subjektive Niederschlag einer Gesellschaftsordnung, die die Menschen zur Ohnmacht verdammt und sie nach allem greifen lässt, was irgendwie Halt verheißt.
Welch tröstliches Gefühl der Sicherheit verleiht es ichschwachen und beschädigten Individuen, einer weltumspannenden und jahrtausendealten Organisation anzugehören! Sozialpsychologisch geurteilt, handelt es sich um ein Entlastungsphänomen: um eine Ersparnis an neuer Überlegung und neuer Entscheidung. Begünstigt und gerechtfertigt wird dieses Verhalten durch die traditionelle Gedankenlosigkeit, Christentum und Humanität kurzerhand zu identifizieren, wie das gängige Lippenbekenntnis zum vermeintlich so hohen Ethos der Bergpredigt beweist.
Wie reagieren die bestallten Theologen auf den skizzierten Substanz- und Funktionsschwund der Religion im Leben der Massen seit etwa zweihundert Jahren? Sofern sie sich nicht trotzig auf die alten Dogmen versteifen und vorgeblich dem Zeitgeist abschwören (Konfessionalismus, Fundamentalismus, Antimodernismus), geben sie sich aufgeschlossen und weltoffen. Sie bedienen sich zeitgenössischer wissenschaftlicher Erkenntnisse und können sich geschickt zu heutigen Fragen äußern. Aber einmal vergeuden sie viel Zeit und Kraft auf den – meist unredlichen und stets autoritätshörigen – Versuch nachzuweisen, dass irgendeine heutige Gegebenheit oder Bewegung im Grunde ganz biblisch und gut christlich sei: etwa Fragen des Weltbildes, der Frauengleichberechtigung, der Sexualethik, der Autonomie der Vernunft. Zum andern sind ihre Arbeiten meist nur ein milder Aufguss der dienstbar gemachten Disziplinen und stets nur ein christlich präparierter dazu – wie sich exemplarisch an Paul Tillichs oder Jürgen Moltmanns soziologischen, psychologischen und philosophischen Analysen zeigen ließe.
Einer fortgeschrittenen kritisch-atheistischen Theorie hat keine noch so modern oder revolutionär sich gebärdende Theologie etwas Neues zu sagen. Im Gegenteil. Bestenfalls bestätigt sie nur die Einsicht Franz Overbecks, dass die Theologie als Parasit von einer Tafel speist, die andere gedeckt haben.

Joachim Kahl: Das Elend des Christentums oder Plädoyer für eine Humanität ohne Gott, Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg, Erstveröffentlichung 1968, erweiterte Neuausgabe 1993.

Joachim Kahl
Die Antwort des Atheismus: – “Es gibt keinen Gott” –
Atheist wurde ich durch mein Theologiestudium. Bereits als Ungläubiger schloss ich es mit der Promotion zum Dr theol. ab. Unmittelbar danach trat ich – Vernunft- und Gewissensgründen folgend – aus der evangelischen Kirche aus, der ich anfänglich als Pfarrer hatte dienen wollen. Der Atheismus, für den ich in diesem Diskussionsbeitrag schreibe, ist in seiner persönlichen Färbung das Ergebnis meiner etwa dreißigjährigen Reflexion. In seiner inhaltlichen Substanz speist er sich aus einer jahrtausendelangen Überlieferungsgeschichte der Religionskritik von den Anfängen der Philosophie bis heute.
Es ist eine unwissende Verkürzung, Religionskritik und Atheismus erst mit der europäischen Aufklärung im 18. Jahrhundert beginnen zu lassen. Der kritische Denkimpuls, der – staunend und zweifelnd – zur Philosophie führte, relativierte die Opfer und Orakel der Priester, die Sprüche und Ansprüche der Propheten. Seither ist die geistige Kultur geprägt von einer Rivalität zwischen Wissen und Glauben, Vernunft und Offenbarung, Philosophie und Theologie, Weltweisheit und Gottesfurcht.

Abgrenzungen
Atheismus ist Gottesleugnung und klar zu unterscheiden von Gotteslästerung, Antitheismus, Neuheidentum und Agnostizismus: Gotteslästerung oder Blasphemie, fast so alt wie der Gottesglaube selbst, ist eine unreflektierte, emotionale Form der Religionskritik. Ein Gotteslästerer bleibt religiös fixiert. Statt Gott zu lieben, verflucht er ihn, weil er sich in seinen Hoffnungen enttäuscht sieht. Der Atheismus hingegen ist – jenseits von Gotteslob und Gotteslästerung – eine entwickeltere Stufe der Religionskritik.
Psychologisch und inhaltlich verwandt mit der eifernden Art der Gotteslästerung ist der Antitheismus, eine militante Art der Gottesbekämpfung. Während der Atheist lediglich Gott leugnet – ihn in seiner Existenz argumentativ bestreitet und als Phantom, als Phantasiegebilde entlarvt -, meint der Antitheist, “Gott” aktiv bekämpfen zu müssen. Antitheismus ist daher verbunden mit verbiestertem Religionshass, mit hämischer Pfaffenfresserei. Ein Hauptbeispiel für diesen Irrweg der Religionskritik ist die kleine Schrift “Die Gottespest” des deutsch-amerikanischen Anarchisten John Most vom Ende des 19. Jahrhunderts. Der hier vorgestellte Atheismus grenzt sich weiterhin ab gegen jede Form von Neuheidentum. Neuheidentum wärmt ältere Stufen der Religionsgeschichte künstlich wieder auf, die durch die Entwicklung zum Monotheismus geistig – kulturell überholt sind. Aktuelle Spielarten sind die buntscheckigen Mischgebilde aus keltischen, germanischen, indianischen, ostastiatischen Elementen, oft verbunden mit bizarren Bräuchen aus Hexen- und Satanskulten. Diese vagabundierenden Formen einer “alternativen Religiosität” – meist in städtischen Subkulturen – werden religionswissenschaftlich auch als Patchwork – Religiosität bezeichnet.
Eine letzte begriffliche Klärung sei durch die Abgrenzung des Atheismus gegen den Agnostizismus herbeigeführt. Ein Agnostiker lässt die Frage nach Gott in der Schwebe, erklärt sie theoretisch für nicht lösbar, für rational unentscheidbar. Zwar steht er in der Regel inhaltlich der Religion ablehnend gegenüber, aber er vermeidet es, sich auf eine atheistische Aussage eindeutig festzulegen. So ist der Agnostizismus – nicht zu verwechseln mit Skepsis, die der Wahrheitssuche verpflichtet ist – eine heute weit verbreitete Haltung weltanschaulicher Laxheit. Diese Ideologie der Denkfaulheit kleidet sich dem Atheismus gegenüber gerne in den abgeklärten Vorwurf, auch der überzeugte Atheist sei in Wirklichkeit einem Glauben verfallen, denn beweisbar sei weder, dass es einen Gott gibt, noch dass es ihn nicht gibt. Demgegenüber beansprucht der hier skizzierte Atheismus, eine sich argumentativ herleitende theoretische ÜÜberzeugung, eine rational philosophische Weltanschauung zu sein. Sie stützt sich auf allgemein nachvollziehbare, insofern zwingende Gründe, auf – wenn man so will – Beweise. Der Glaube hingegen beruft sich auf Eingebungen, Offenbarungen, Heilige Geister oder Heilige Schriften. Sie entziehen sich eingeräumtermaßen allgemeingültiger Nachvollziehbarkeit, weshalb als ein weiterer – ebensowenig überprüfbarer – Faktor oft noch die göttliche Gnade hinzukommen muss.
Der Atheismus ist eine historisch reflektierte, nach-religiöse Bewusstseinsform, die gedanklich und emotional über den Monotheismus hinausführt, indem sie seine ursprüngliche Logik der Entgötterung, Entweihung, Entzauberung und Verweltlichung der Welt konsequent zu Ende führt und gegen ihn selbst kehrt. Das Suchen nach Sinn gehört zur Natur des Menschen, insofern er sich als instinktarmes Lebewesen eigenständig in der Welt zurechtfinden, geistig orientieren muss. Aber nicht jeder Sinnsucher ist ein Gottsucher und die spirituellen Bedürfnisse der Menschen dürfen nicht kurzschlüssig mit religiösen gleichgesetzt werden. Zwar sind auf die Sinnfrage traditionellerweise religiöse Antworten üblich, aber es sind eben auch nicht – religiöse, weltlich- humanistische, atheistische Antworten möglich. Auch die spirituellen Bedürfnisse können eine religiöse und eine nicht – religiöse Befriedigung erfahren. Es ist unredlich, die gemüthaften Bedürfnisse, die Verstand und Gefühl umgreifen – das Verlangen nach Sinn, Halt Trost und Mut im Leben-, flugs religiös zu vereinnahmen. Es gilt schlicht zur Kenntnis zu nehmen, dass alle spirituellen Tätigkeiten und Vorgänge, wie Erleuchtung und Versenkung, Meditation und Kontemplation, ja selbst die Mystik, keine ausschließliche Domäne der Religion sind, sondern auch weltlich-philosophische Spielarten kennen, die durchaus in einem atheistischen Lebensentwurf ihren Stellenwert haben können.

Die zwei Säulen des Atheismus
Der hier entwickelte undogmatische Atheismus beansprucht, den Gottesglauben von innen heraus aufzulösen, ihn an seinen inneren Widersprüchen und Ungereimtheiten scheitern zu lassen. Damit wird die religionskritische Schlüsselaufgabe bewältigt, weil im Gottesbegriff alle weiteren Glaubensinhalte letztlich verankert sind.
Die beiden Säulen des Atheismus lauten:
1. Es gibt keinen Gott, der die Welt erschaffen hat. Die Welt ist keine Schöpfung, sondern unerschaffen, unerschaffbar, unzerstörbar, kurz: ewig und unendlich. Sie entwickelt sich unaufhörlich gemäß den ihr innewohnenden Gesetzmäßigkeiten, in denen sich Notwendiges und Zufälliges verschränken.
2. Es gibt keinen göttlichen Erlöser. Die Welt ist unerlöst und unerlösbar, voller Webfehler und struktureller Unstimmigkeiten, die aus der Bewusstlosigkeit ihrer Gesetzmäßigkeiten herrühren.
Für eine atheistische Weltweisheit und Lebenskunst ergibt sich aus diesen Einsichten die Schlussfolgerung: Der Mensch ist nicht das Ebenbild einer überweltlichen und übernatürlichen Gottheit, sondern ein vorbildloses Geschöpf der Natur, all ihren Gesetzen unterworfen. In einer Welt, die nicht für ihn gemacht wurde, muss er sich seinen Weg selbst Bahnen und lernen, allem verderblichen Allmachts- und Unsterblichkeitswahn zu entsagen. Atheismus ist der Abschied von jeglicher Heilslehre und Heilshoffnung, freilich auch von jeglicher Unheilslehre und Untergangsprophetie, mögen sie sich auf ein illusionäres Jenseits oder auf das Diesseits beziehen. Menschliches Leben heißt: sich für eine kurze Zeitspanne erträglich einrichten auf einem Staubkorn im Weltall – mit Würde und Anstand und Humor. Vielleicht gelingt es doch noch den Erdball bewohnbar zu gestalten!? Die gesellschaftlichen Verhältnisse lassen sich jedenfalls schrittweise verbessern. Universale Gerechtigkeit und die Versöhnung von Mensch und Natur bleiben allerdings unerreichbar. Himmel und Hölle, Paradies und Verdammnis sind religiöse Trugbilder, keine atheistischen Leitideen.
Die beiden Säulen des Atheismus haben den gleichen theoretischen Rang, sie charakterisieren zwei unterschiedliche Argumentationsfiguren, die eine metaphysische und eine empirische Widerlegung des Gottesglaubens liefern.
Der empirische Beweis zielt auf den unerlösten, elenden Zustand der Welt, das herzzerreißende, unschuldige Leiden und Sterben von Tier und Mensch, die mit dem Glauben an einen zugleich allgütigen, allwissenden, allwirksamen und allmächtigen Gott nicht vereinbar sind. Der Atheismus findet seine eigentliche Begründung in der Wirklichkeit selbst, in der blut- und tränengetränkten Geschichte des Tier- und Menschenreiches. Wie kann ein angeblich liebender Gott, bei dem kein Ding unmöglich ist, die Lebewesen, die er doch geschaffen hat, so unsäglich leiden lassen? Entweder er ist nicht allmächtig und kann die Leiden nicht verhindern oder er ist nicht allgütig und will die Leiden nicht verhindern. Auf diese Zwickmühle innerhalb des Gottesglaubens hat erstmals der griechische Philosph Epikur um 300 vor unserer Zeitrechnung in aller begrifflichen Klarheit aufmerksam gemacht. An Epikurs Religionskritik anknüpfend hat viel später der deutsche Dichter Georg Büchner das Leiden eindrucksvoll als den “Fels des Atheismus” bezeichnet. In dem berühmten “Philosophengespräch” seines Dramas “Dantons Tod” heißt es: “Schafft das Unvollkommene weg, dann allein könnt Ihr Gott demonstrieren … Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz … Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich in einem Atom, macht einen Riss in der Schöpfung von oben bis unten.”
Aber auch angenommen, es gäbe dermaleinst tatsächlich einen seligen Zustand, wie ihn die Offenbarung des Johannes im Neuen Testament (21,4) verheißt, dass Gott abwischen wird alle Tränen und es keinen Tod und kein Leid und keinen Schmerz und kein Geschrei mehr geben wird: Wäre damit der schnöde Atheismus eines besseren belehrt und stünde Gott gerechtfertigt da? Nein, denn die Erlösung im Jenseits kommt immer zu spät. Sie kann nicht im geringsten ungeschehen machen, was zuvor geschehen ist. Die Unumkehrbarkeit der Zeit ist die unüberschreitbare Grenze jeder Allmachtsidee. Kein Erdbeben-, Kriegs-, Folter-, Mord-, Krebs-, oder Verkehrs-Opfer wird verhütet durch religiöse Erlösungsversprechen. In welchem annehmbaren Sinn sollte erfahrenes Leid je wieder gutgemacht werden können? Das liebenswerte Sehnsuchtsbild einer vollendeten Gerechtigkeit, einer universalen Versöhnung bleibt unerfüllbar, weil selbst bei einer jenseitigen Kompensation das zuvor Geschehene nie ungeschehen gemacht werden kann.
Hinzu kommt, dass im Neuen Testament (um im christlichen Bereich zu bleiben) der Erlösung ohnehin nur eine Minderheit der Menschen teilhaftig wird: “Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt”, heißt es im Matthäus Evangelium (22,14). Unmittelbar nach dem zitierten Wort aus der Offenbarung des Johannes wird den “Ungläubigen”, “Abgöttischen” und “Hurern” die ewige Qual in “Feuer und Schwefel” angedroht (21,8).
Und: Wenn Gott überhaupt einen Zustand ohne Schmerz und Leid schaffen kann, warum dann erst so spät und nicht von Anfang an? Warum zuvor die eigenen Geschöpfe durch ein Meer von Blut und Tränen waten lassen? Die nüchterne Antwort kann nur lauten: Statt die Wirklichkeit zu verrätseln und sich in “Gottes unerforschliche Ratschlüsse” zu flüchten, ist redlich einzuräumen: Es gibt keinen Gott. Ohne Gottglauben ist die Wirklichkeit bitter, aber mit Gottglauben ist sie bitter und absurd.
Die zweite Säule des Atheismus bestreitet nicht Gott den Erlöser, sondern Gott den Schöpfer. Sie argumentiert nicht empirisch, sondern metaphysisch, das heißt: Sie überschreitet den Bereich des Erfahrbaren und greift in jenen Teil der Wirklichkeit hinüber, der sich allein dem abstrakten Gedanken erschließt. Die hier vorausgesetzte Metaphysik ist eine Metaphysik ohne Goldgrund, eine nicht – religiöse, philosophische Theorie des Weltganzen. Erklärter- und unvermeidliche Weise verlässt sie den Bereich des empirisch Gegebenen, ohne freilich den Boden der Rationalität zu verlassen. Sie entschwindet nicht in eine “höhere Welt”, sondern denkt, was nicht sinnlich fassbar, aber denknotwendig ist: die Welt als Gesamtzusammenhang, als Verschränkung von Teil und Ganzem, von Relativem und Absolutem. Der Glaube, dass ein Gott die Welt erschaffen hat, lässt sich durch Überlegungen der folgenden Art von innen her entkräften.
Als erstes ist zu fragen: Was tat Gott vor der Erschaffung der Welt, wenn die Schöpfertätigkeit zu seinen ewigen und unveräußerlichen Wesensmerkmalen zählen soll? Lag seine Schöpferkraft vorher brach? Weshalb wurde sie auf einmal tätig? Offenbar hat sich Gott gewandelt, obwohl doch die Unwandelbarkeit zu seinen klassischen Attributen gehört. Wenn er sich aber gewandelt hat, ist er der Zeit unterworfen. Es gab also eine Phase, in der Gott noch nicht der Schöpfer war. Der Gedanke eines ewigen Schöpfers, der irgendwann eine zeitlich begrenzte Welt geschaffen haben soll, ist logisch nicht widerspruchsfrei zu denken. Das hat den Philosophen Johann Gottlieb Fichte zu der schroffen Bemerkung veranlasst, “die Annahme einer Schöpfung” sei “der absolute Grundirrtum aller falschen Metaphysik”. Durch sie werde “das Denken in ein träumendes Phantasieren verwandelt” (“Die Anweisung zum seligen Leben”, Sechste Vorlesung).
Der zweite Kritikpunkt erwächst aus der Frage: Warum hat Gott überhaupt die Welt geschaffen, obwohl er doch ein in sich selbst vollkommenes Wesen sein soll, das in seiner Majestät keines anderen bedarf? Die biblische Antwort – Gott schuf sich die Welt als sein Gegenüber und den Menschen als sein Ebenbild – provoziert unvermeidlich den Einwand: Da Gott nichts Sinnloses tut, muss ihm vorher etwas gefehlt haben. Wenn er aber ein Gegenüber brauchte, weil er einen Mangel litt, war er nicht in sich vollkommen. Schöpfertum und Vollkommenheit schließen sich aus. Das ergibt sich auch aus dem religiös – liturgischen Dauerappell, die Geschöpfe sollten ihren Schöpfer lobpreisen, verherrlichen, anbeten, ihm danken und vor ihm auf die Knie fallen.
Diese Ermahnungen, die ihren Ursprung in patriarchalisch-despotischen Verhältnissen nicht verleugnen können – hier der absolute Herrscher, dort die demütigen Untertanen-, beweisen erneut: Der Schöpfergott verzichtet ungern auf das Halleluja seiner Geschöpfe. Ein Zeichen innerer und äußerer Unabhängigkeit, gar Vollkommenheit ist das kaum. Um sich als Schöpfer zu beweisen, bedarf Gott der Welt; die Welt bedarf Gottes nicht. Sie besteht aus sich selber, ungeworden und unvergänglich, freilich auch völlig gleichgültig gegenüber dem Wohl und Wehe ihrer Geschöpfe. Eine letzte Überlegung betrifft das Verhältnis von Geist und Materie. Der Schöpfungsglaube behauptet, ein reiner Geist habe etwas Nicht-Geistiges, Materielles hervorgebracht. Hier wird uns erneut ein Opfer des Verstandes, der Glaube an ein Wunder, zugemutet. In Wahrheit verhält es sich umgekehrt: Geist ist ein reifes Entwicklungsprodukt langwierigster materieller Vorgänge unter günstigsten Bedingungen. Geist ist gebunden an hochkomplexe Gehirnstrukturen. Deren Beschädigung beschädigt auch den Geist, deren Absterben führt auch zum Absterben des Geistes.

Poesie des Atheismus
Der Vorgang der Entzauberung, der mit dem Atheismus in der Tat einhergeht, befreit die Welt von allem faulen Zauber, berührt aber nicht den ihr innewohnenden wirklichen Zauber. Der Dichter Gottfried Keller hat dies nach seiner Begegnung mit dem atheistischen Denker Ludwig Feuerbach in einem Brief so formuliert: “Wie trivial erscheint mir gegenwärtig die Meinung, dass mit dem Aufgeben der sogenannten religiösen Ideen alle Poesie und erhöhte Stimmung aus der Welt verschwinde! Im Gegenteil! Die Welt ist mir unendlich schöner und tiefer geworden, das Leben ist wertvoller und intensiver, der Tod ernster, bedenklicher und fordert mich nun erst mit aller Macht auf, meine Aufgabe zu erfüllen und mein Bewusstsein zu reinigen und zu befriedigen, da ich keine Aussicht habe, das Versäumte in irgendeinem Winkel der Welt nachzuholen…”

Aus: “Internationaler Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) e.V.”
Mythologeme: Bildung von mythischen Gestalten und Überlieferungen.
Fundamentalismus: anerkennt ausschließlich das wörtliche Verständnis der Bibel als Fundament des Glaubens und richtet sich ausdrücklich gegen wissenschaftliche Methoden der Schriftauslegung.

Bertolt Brecht hat in seinen “Geschichten vom Herrn Keuner” folgendes geschrieben:

Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe.
Herr K. sagte: “Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde.
Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallenlassen.
Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, dass ich dir sage, du hast dich schon entschieden:
Du brauchst einen Gott.”