5. DER WEG DES GERECHTEN
Eine gute Gelegenheit, Jesus unter Ausschluss der Öffentlichkeit dingfest zu machen, ergab sich, als ein offensichtlich von Jesus enttäuschter Anhänger sich anbot, den nächtlichen Aufenthaltsort Jesu mitzuteilen, sobald dies für eine Verhaftung günstig erschien. Eine nächtliche Verhaftung würde wenig Lärm und Aufheben verursachen. Die Motive des Enttäuschten blieben weitgehend im Dunkeln. Entweder er hatte eingesehen, dass Jesus die Erwartungen der Massen nicht erfüllen und sich nicht zum Messias-König ernennen würde oder aber er wollte Jesus zum Handeln zwingen. Es mag sein, dass er darauf spekulierte, dass Jesus, ersteinmal mit der ausweglosen Situation des schrecklichen Kreuzestodes konfrontiert, im letzten Moment seine königliche Macht zeigen müsste, um der Hinrichtung zu entgehen. Denn sie würde ja schließlich endgültig widerlegen, dass er der wahre Messias sei.
Vielleicht dachte dieser Judas so oder so ähnlich.
Für die im Tempel Verantwortlichen war das ohne Bedeutung. Sie hatten nach einer Möglichkeit gesucht, Jesus ohne Revolte in ihre Macht zu bekommen und nun bot sich diese Chance.
Es wurde auch höchste Zeit, denn Jesus hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Er hatte den letzten Grund geliefert, der bewies, dass man ihn aus dem Weg räumen musste. Er war nicht mehr zu retten, denn am dritten Tag nach dem Sabbat war er im Tempel aufgetaucht und hatte dort in einem der Vorhöfe Unruhe gestiftet. Mit einigen seiner Anhänger hatte er in einer Art „Blitzaktion“ einige Händler und Geldwechsler angegriffen und den Tempel als „Räuberhöhle“ bezeichnet. Bevor die anwesenden Gläubigen ihn festhalten und der Tempelpolizei übergeben konnten, war er schon wieder verschwunden. Der Sachschaden war gering, kaum jemand hatte den Vorfall bemerkt und zu anderen Zeiten hätte man mit ihm vielleicht auch anders umgehen können.
Aber: Jesus wusste genau, was er tat und welche Auswirkungen sein Verhalten nach sich zog.
Diese Aktion traf direkt ins Zentrum des jüdischen Lebens und steigerte die Erwartung an ihn ins Unermessliche. Natürlich hatte sich die Aktion wie ein Lauffeuer herumgesprochen und man war sich einig: Er wollte ein prophetisches Zeichen setzen!
Er war endlich aktiv geworden und hatte den Machtkampf mit der korrupten Priesterschaft aufgenommen. Denn diese hatten immer wieder deutlich gemacht, dass der Tempel das unangreifbare Heiligtum bleiben müsse und dass sich der Hohe Rat, besonders die Sadduzzäer, als Hüter des Kultes verstehen.
Nun hatte Jesus also dieses bahnbrechende Zeichen gesetzt und es noch durch ein prophetisches Wort verstärkt:
„Reißt diesen Tempel nieder und ich werde ihn in drei Tagen wieder aufbauen.“ (Joh. 2,19)
Deutlicher hätte die Kampfansage nicht formuliert werden können.
Und das Synhedrion war sich einig, dass die Zeit drängte. Wenn Pilatus von diesem Ereignis erfahren würde und es bestand gar kein Zweifel, dass seine Spitzel informiert waren, dann würden viele Unschuldige zu leiden haben. Und das jetzt, in einer Zeit, in der die Stadt hoffnungslos überfüllt war. Wieder Tausende von Toten …? Man musste schnell und entschlossen handeln.
Aber es gab noch ein Problem: Die Blutgerichtsbarkeit war ja an den Statthalter gekoppelt und die jüdischen Gerichte durften keine Todesstrafe verhängen. Aber das war die einzige Strafe, durch welche Unruhen vermieden werden konnten. Nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn Jesus im Gefängnis sitzen und seine Anhänger womöglich eine Befreiungsaktion durchführen würden, die dann auch noch Erfolg haben könnte. Dann hieß es wahrscheinlich noch, Gott selbst habe ihn aus der Gefangenschaft befreit … Nein – es durfte kein weiteres Risiko eingegangen werden. Jesus musste beseitigt werden.
Es blieb also keine andere Möglichkeit, als – wiedereinmal – mit Pilatus zusammenzuarbeiten und ihm Jesus als Terroristen auszuliefern. Ob er mitspielen würde? Oder würde er sich wieder stur stellen, nur weil die Initiative vom Synhedrion ausging?
Zunächst ging es aber erst einmal darum, Jesus aus dem Verkehr zu ziehen. Alles sollte möglichst noch vor dem Fest geschehen, damit es nicht doch noch zu Aufständen oder Befreiungsaktionen kommen könnte.
So zog am Donnerstagabend, dem Abend vor dem Pessach-Sabbat, die Tempelpolizei mit ihrem Informanten Judas zu dem angegebenen Ort, um den Unruhestifter zu verhaften. Tatsächlich fand sich dort eine Anzahl von Leuten, nicht wenige in einem mehr oder minder betrunkenem Zustand. Einige versuchten noch, sich der Festnahme zu entziehen und zogen Schwerter. Schwerter! Allein dafür hätte man sie hinrichten lassen können. Aber bei dieser Aktion ging es um etwas anderes, um jemand anderen: um Jesus. Um seine Begleiter konnte man sich später kümmern.
Tatsächlich lief dann auch alles glatt: Jesus selbst sah die Sinnlosigkeit der Situation ein und verbot seinen Mitstreitern diese blutige Auseinandersetzung. Es wäre auch ein ziemlich unsinniges Blutvergießen geworden, denn die Übermacht der Tempelpolizei war erdrückend. Nachdem die Ausweglosigkeit der Situation den Jüngern bewusst war, verging auch den letzten Großsprechern ihr Mundwerk und alle suchten ihr Heil in der Flucht. Um die erfolgreiche Aktion nicht letztlich durch irgendeinen dummen Zufall zu gefährden, wurde auf eine Verfolgung verzichtet. Man würde ihrer schon an anderer Stelle habhaft werden können, wenn sie wieder auffällig werden würden.
Allerdings: durch den Verlust ihres Anführers war scheinbar jede Form von Zusammenhalt oder Solidarität verloren gegangen.
Wie es hieß ging das sogar so weit, dass einzelne Gruppenmitglieder später leugneten, ihren Anführer je gekannt zu haben.
Verständlich ist diese Haltung durchaus, denn wenn man die Begleiter Jesu erwischt hätte, wären sie als Mitglieder einer terroristischen Vereinigung am Kreuz gelandet.
Aber dennoch: was für Charaktere!!
Jesus jedenfalls wurde von Kajaphas einer Art Verhör unterzogen. Es waren noch einige Ratsmitglieder und auch der ehemalige Hohe Priester anwesend. Allgemein hielt man recht wenig von den Ideen diese Mannes aus Nazareth. Alles war überzogen, unzusammenhängend und anmaßend. Man konnte sich mit einiger Berechtigung fragen, was so viele Menschen an diesem jämmerlichen Wanderprediger fanden.
Im Grunde war es nur ein harmloser Spinner. Diese Auffassung machten auch einige der Anwesenden sehr deutlich, indem sie Jesus die Augen verbanden, ihn zusammenschlugen und anspuckten und dann zur Belustigung aller fragten, wer ihn denn gerade angespuckt oder geschlagen habe. Angeblich soll er ja hellseherische Fähigkeiten besessen haben …
Insgesamt blieb dieser Jesus ziemlich ruhig, was sollte er auch anderes machen? Als der Hohe Priester ihm dann schließlich (allerdings mehr scherzhaft) die entscheidende Frage stellte:
„Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten?“ da antwortete ihm dieser Mensch doch allen Ernstes:
„Ich bin es, und ihr werdet den Sohn des Menschen sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen mit den Wolken des Himmels.“
Was für eine unglaubliche Überheblichkeit und, in den jüdischen Ohren, unverschämte Gotteslästerung. Jesus stellte sich über die versammelte Priesterschaft, über den Hohen Priester und bezeichnete sich als denjenigen, der über sie Gericht halten wird!
Damit stellte er sich mit Gott auf eine Stufe. Unverzeihlich!
Die Reaktion war auch dementsprechend. Der Hohe Priester zerriss sich sein Kleid, wie er es angesichts einer solchen Lästerung als Zeichen seiner Zerknirschung tun musste, und alle sprachen ihn des Todes schuldig. Darin waren sich also nun alle Anwesenden einig – dazu brauchte man auch keine formelle Bestätigung des gesamten Synhedrions. Es war schließlich Gefahr im Verzuge, das Pessachfest sollte bald beginnen und verurteilen konnte ihn sowieso nur Pilatus.
Das war auch nun die eigentliche Schwierigkeit, an der kein Weg vorbei führte. Pilatus musste Jesus zum Tod verurteilen. Ob er das aber machen würde? Jüdische Religionsstreitigkeiten waren ihm egal, er benutzte sie höchstens, um sich zu amüsieren und die Juden zu provozieren. Obwohl ihm ein Menschenleben nichts bedeutete, war es höchst ungewiss, ob er auf Verlangen, besser: Bitten der Juden, jemanden zum Tode verurteilen würde. Seine erste Reaktion bestätigte genau diese Befürchtung:
„Was für eine Anklage bringt ihr gegen diesen Mann vor?“
Seit wann war es für Pilatus nötig, jemanden erst anzuklagen und dann zu verurteilen? Um möglichst die Konfrontation zu vermeiden, antwortete der Hohe Priester noch recht ausweichend:
„Wenn dieser nicht ein Verbrecher wäre, hätten wir ihn dir nicht überliefert.“
Was auch immer der Grund war, vielleicht hatte ihm der Ton nicht gepasst, vielleicht hatte er schlecht geschlafen oder er hatte Ärger mit seiner Frau: Pilatus war misstrauisch und keinesfalls geneigt, die Sache zu einem schnellen Abschluss zu bringen. Er tat höchst uninteressiert und gab den Ball zurück:
„Na, wenn das so ist, dann nehmt ihr ihn und richtet ihn nach eurem Gesetz.“
Als wenn er nicht genau wüsste …
So war es eben: Nie ging es um die Sache, es war immer ein Machtkampf. Aber diesmal war Kajaphas nicht bereit, so einfach nachzugeben. Er sah es als unbedingt notwendig an, alles zu versuchen, um in diesem Jahr Aufstände zum Pessachfest zu vermeiden. Und genau so sicher war er, dass, wenn dieser Unruhestifter den schändlichen Tod am Kreuz gestorben war, alle anderen Möchtegern-Messiasse wenigstens für eine Weile Ruhe gaben.
Er ging also aufs Ganze:
„Uns ist es nicht erlaubt, jemanden zu töten.“
Damit gab er zu verstehen, und zwar unmissverständlich: Hier handelt es sich nicht um ein Bagatelldelikt, nicht um eine Nebensache, sondern um Hochverrat. Damit war Pilatus gezwungen, der Sache, wenigstens dem Anschein nach, etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Allerdings, und das machte er gleich ohne Umschweife deutlich: Er würde ebenfalls nicht nachgeben und der „Entscheidung“ des Synhedrions nicht folgen. Was hatten denn diese Juden zu entscheiden, ohne ihn vorher um Rat zu fragen? Erst entscheiden – und dann sollte er die Entscheidung hinterher noch bestätigen? Das hätte ja den Anschein erweckt, als hätte das Synhedrion tatsächlich eine weitreichende Entscheidungsbefugnis. Dem wollte er gleich zu Anfang einen Riegel vorschieben und den Mut dieser vorlauten Männer dämpfen. Deshalb ließ er Jesus zwar in seinen Palast führen, doch schon mit der ersten Frage machte er deutlich, was er von dieser ganzen Angelegenheit hielt:
„Bist du der König der Juden?“ fragte er, offensichtlich höchst belustigt.
Was für eine Ohrfeige für alle anwesenden Juden! Der König der Juden! Dieser Wanderprediger! Und das angesichts des herodianischen Königshofes, an dem nun wahrhaftig königlich gefeiert wurde. Die Ironie dieser Frage blieb niemanden verborgen und die Abordnung des Synhedrions hatte Mühe, Fassung zu bewahren. Jesus aber schien davon unberührt und entgegnete schlicht:
„Du sagst es. Aber mein Reich ist nicht von dieser Welt …“ und ähnliche unverständliche Dinge mehr.
Das gab dem Hohen Priester dann die Gelegenheit, auch die anderen Anklagepunkte vorzubringen und eine Verurteilung Jesu zu fordern. Pilatus schäumte innerlich vor Wut, dass Jesus sich indirekt selbst belastete und er gegenüber Kajaphas in eine schwächere Position geriet. Er wollte dieses Mal um keinen Preis nachgeben! Aber dem Hohen Priester konnte er zurzeit nichts anhaben, also entlud sich der Zorn am schwächsten Glied in der Kette, an Jesus:
„Hörst du nicht, wie viele Zeugnisse sie gegen dich vorbringen? Antwortest du nicht? Sie haben dich schließlich an mich ausgeliefert. Weißt du denn nicht, dass ich alleine es bin, der dich verurteilen oder freisprechen kann?“
Auch dies war wieder ein Seitenhieb gegen die jüdischen Würdenträger, aber auch auf eine fast lächerliche Weise der Versuch, Jesus an sich zu binden. Denn dieser Angeklagte verzichtete fast völlig auf seine Verteidigung. Ein bisschen mehr Selbsterhaltungstrieb hätte Pilatus schon erwartet, vor allem jetzt, wo ein energischer Widerspruch ihm durchaus recht gewesen wäre.
Aber: Jesus blieb stumm. Von dem Willen beseelt, diesmal auf keinen Fall nachzugeben und ein für allemal deutlich zu machen, wer hier das Sagen hatte, entschied sich Pilatus für eine fast hilflos wirkende Geste: Er wandte sich an die vor seinem Haus wartende und nach Sensationen gierende Menschenmenge:
„Seht diesen Menschen.“
Der Mob aber, der sich von Jesus getäuscht sah, wollte das Spektakel und forderte seine Kreuzigung. Nun verfiel Pilatus auf einen, wie er meinte, genialen Schachzug: Er bot Jesus zur jährlichen Amnestie an. Immer wieder, wenn ihn seine Großzügigkeit überfiel, ließ er zu einem besonders großen Fest einen Angeklagten frei, den sich die gerade anwesenden Feiertagsgäste aussuchen durften. Die ganze Prozedur war ziemlich willkürlich, manchmal sogar auch vorher abgesprochen. Pilatus dachte jedenfalls, mit diesem Schritt gleich alle Probleme los zu sein: Er konnte diesen harmlosen Spinner, als den er Jesus betrachtete, in die Wüste schicken und hätte dem Volk gleichzeitig seine Großzügigkeit demonstriert. Außerdem, und das war noch viel wichtiger, hätte er sich dem Synhedrion gegenüber durchgesetzt, denn wenn die „Menschenmasse“ draußen sein „Angebot“ annahm, dann würden sich die Priester nicht mehr lange gegen die Freilassung wehren können.
Der Schuss ging aber in diesem Fall nach hinten los. Nicht nur, dass eine offensichtlich sehr stimmgewaltige Anhängerschar des berüchtigten Terroristen Barrabbas anwesend war und lautstark seine Freilassung forderte (die er ja nun schlecht verweigern konnte) er hatte mit diesem Amnestieangebot ja indirekt zugegeben, dass auch er Jesus für einen Verbrecher hielt, denn sonst hätte er ihn ja nicht zu begnadigen brauchen. Diese Konsequenz wurde ihm aber erst später bewusst. Zunächst entwickelte sich ein sehr heftiges Wortgefecht zwischen ihm und dem Hohen Priester, das dann im Aufschrei des Pilatus endete:
„Wenn es euch so wichtig ist, dass dieser Mensch verurteilt wird, dann nehmt ihr ihn und verurteilt ihn. Ich finde jedenfalls keine Schuld an ihm und werde ihn auch nicht verurteilen.“
„Wenn du diesen freilässt“, entgegnete mit kalter, seinen Vorteil ausnutzender Stimme Kajaphas, „wenn du diesen freilässt, dann bist du kein Freund des Kaisers mehr. Jeder, der sich zum König macht, widersetzt sich dem Kaiser.“
Das war der Schlusspunkt. Ob dieser Unverschämtheit verschlug es Pilatus schier die Sprache. Dieser Jude, der stellvertretend war für die unruhigste Provinz im ganzen Römischen Reich, dessen Volk sich seit Jahrhunderten weigerte, irgendeine andere Autorität als seinen eigenen König anzuerkennen, dieser Mensch stellte sich vor den Statthalter und argumentierte scheinheilig mit der Autorität des Kaisers! Am liebsten hätte Pilatus ihm die Zunge herausreißen und ihn im dunkelsten Verlies verfaulen lassen. Aber: Pilatus war zu klug und zu weitsichtig, um sich nun eine Blöße zu geben. Er wusste, dass er den kleinen Machtkampf für den Moment verloren hatte, denn er konnte es einfach nicht riskieren,. dass noch eine Beschwerde aus der jüdischen Provinz an das Ohr des Kaisers gelangte. Zumal diese Beschwerde, wenn auch scheinheilig, inhaltlich doch gerechtfertigt gewesen wäre. Zumindest konnte man so argumentieren. Für den Moment also gab Pilatus nach, sann aber sogleich auf Rache.
Die Mittel, die er dafür auswählte, um seine Gegner zu brüskieren, zeigten, dass er von hoher Intelligenz war, dass er sich mit den von ihm abgelehnten Bräuchen dennoch durchaus auskannte und dass er zielsicher den Kern einer Sache finden und treffen konnte, um zu verletzen.
Er ließ also Jesus, an dem er nun jegliches Interesse verloren hatte, hinausführen und befahl, ihm eine Waschschüssel zu bringen.
Bei der Handlung, die er nun ausführte und bei den Worten, die er nun aussprach, bekamen die Priester rote Köpfe vor Entrüstung:
„Ich wasche meine Hände in Unschuld.“ sagte er und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Er vollzog doch tatsächlich das Zeichen der rituellen Waschung vor dem Opfer und entheiligte dadurch dessen Bedeutung! Eine unglaubliche Anmaßung.
Noch schlimmer war es als deutlich wurde, welches Schild er am Kreuz des Verurteilten anbringen ließ. Über den Köpfen der Todgeweihten wurden normalerweise die Verbrechen angeschrieben, wegen derer die Todesstrafe ausgesprochen wurde. Am Kreuz von Jesus stand:
„Jesus aus Nazareth – der König der Juden.“
Welche Unverschämtheit – auch wenn das Ansehen von Herodes im Volk auf dem Nullpunkt angelangt war – die Institution des jüdischen Königshauses wurde damit von Pilatus angegriffen. Der politische und religiöse Führer des ganzen auserwählten Volkes Gottes wurde mit diesem hingerichteten Banditen identifiziert. Das war eine ganz gezielte Infamie und der letzte Stich, den Pilatus in dieser Sache gegen den Hohen Priester, das Synhedrion und letztlich auch gegen das ganze Volk der Juden setzte. Jeder Versuch einer Abmilderung, einer Schadensbegrenzung, musste scheitern. Dennoch wollte Kajaphas nichts unversucht lassen.
Abermals wurde er bei Pilatus vorstellig und bat ihn:
„Schreib nicht: Der König der Juden; sondern, dass jener gesagt hat: Ich bin der König der Juden.“
Pilatus aber sagte kühl:
„Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.“
Damit war für ihn diese unerfreuliche Angelegenheit erledigt.
Jesus starb zu seinem Glück relativ schnell am Kreuz.
Letztlich hatten sich fast alle Menschen, die ihn kannten, von ihm abgewandt.
Er aber war in seinem Glauben und seinem Gottvertrauen treu geblieben und angesichts des nahenden Todes versuchte er noch, den Psalm anzustimmen, mit dem jeder gläubige Jude auf den Lippen stirbt:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen …“
Weiter kam er nicht mehr. Sonst hätten die unter dem Kreuz Stehenden noch hören können, wie dieser Psalm letztlich doch in die Zuversicht auf Gottes Liebe und Geborgenheit endet:
„Denn er hat nicht verachtet, verabscheut das Elend des Armen. Er verbirgt sein Gesicht nicht vor ihm; er hat auf sein Schreien gehört.“
Diejenigen, die in ihm den Messias sahen und die ihr ganzes Leben auf seine Botschaft ausgerichtet hatten, waren bis in die Tiefen ihrer Seele erschüttert. Die Sache Jesu war für sie beendet, sein Messiasanspruch war widerlegt. Sie kamen sich ausgenutzt und allein vor, beschämt und enttäuscht. Die Zuversicht des sterbenden Jesu auf die Geborgenheit in Gott, auch über den Tod hinaus, hatte sie (noch) nicht erreicht. Der Mann aus Nazareth, Jesus, derjenige, in dem sie lange Zeit den unbesiegbaren und unsterblichen Messias sahen, war tot.