DIE SPRACHE DER BIBEL

Viele Probleme, die heutige Menschen mit dem Glauben, insbesondere mit der Bibel haben, resultieren aus dem Missverständnis, dass die Bibel von ihnen wie eine naturwissenschaftliche Abhandlung gelesen und wortwörtlich verstanden wird. Demnach wäre der Hase ein Wiederkäuer und unser Planet innerhalb von nur sieben Tagen entstanden. Da dies unseren heutigen Erkenntnissen widerspricht, werden die biblischen Aussagen als veraltete und falsche Märchen abgetan.
Doch abgesehen von einigen wenigen Stellen ist sich die heutige Theologie darin einig, dass die Sprache der Hl. Schrift eine mit zahlreichen Symbolen versehene Bildersprache ist, die man nur vor dem Hintergrund der damaligen Lebensverhältnisse verstehen kann. Eine besondere Disziplin der Theologie, die Exegese, versucht diese Sprache der Bibel zu entschlüsseln. Sie kommt dabei zu erstaunlichen Ergebnissen. –
Die Bibel erhebt nirgends den Anspruch, naturwissenschaftlich überprüfbare Aussagen zu machen. Sie will keine Tatsachenberichte liefern, sondern (insbesondere das NT) Glaubensaussagen. Die Menschen, von denen diese alten Texte stammen, sind vom Glauben ergriffen, verstehen die Botschaft Jesu als `Evangelium´, als Frohe Botschaft. Diese Botschaft möchten sie weiter vermitteln, weil sie fest davon überzeugt sind, dass der Glaube an Jesus Christus auch andere Menschen glücklich und zufrieden machen und einen Menschen in seinem Leben tragen kann. Diesen Glauben versuchen sie mit den Mitteln ihrer Zeit weiter zu tragen. Sie benutzen den zu ihrer Zeit verbreiteten Glauben an Wunder, an Dämonen u.a.m., um ihren Zeitgenossen die herausragende Bedeutung Jesu Christi deutlich zu machen. –
Doch der Glaube an Wunder z.B. ist heute für viele Menschen nicht mehr nachvollziehbar, und mit der Ablehnung des Wunderglaubens lehnen sie auch gleich die Bibel gänzlich als Märchenbuch ab. Wenngleich die Wunder, die die Bibel schildert, „so“ nicht geschehen sein mögen, sind sie deswegen nicht falsch. Da sie keine Tatsachenberichte sein wollen, sondern Glaubensaussagen, können sie naturwissenschaftlich „unglaubwürdig“ und dennoch gleichzeitig „wahr“ sein. Wahr im Sinne einer tieferen Wahrheit. Ein Beispiel:
Jesu Totenerweckungen sind nicht im Sinne eines Tatsachenberichtes wörtlich zu verstehen. Biblisch gesehen bedeutet Tod die Trennung von Gott. Die Rede von der Totenerweckung dient daher der Veranschaulichung, dass jemand im Glauben zum wahren Leben übergegangen ist und die Menschen durch Jesus heil werden. –
Die Bibel erscheint vielen Menschen als ein einziges Buch, das von einem Autor verfasst wurde. Auf Grund exegetischer Erkenntnisse wissen wir heute mehr als früher, dass die Hl. Schrift eine Art `Bibliothek´ ist, eine Ansammlung vieler verschiedener Texte aus verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Autoren. Auch die jeweiligen Textgattungen der einzelnen Schriften sind von Bedeutung. Eine Prüfungsgeschichte ist etwas anderes als eine Opfergeschichte und hat demnach eine andere Aussageabsicht. (vgl. die Geschichte „Abraham opfert seinen Sohn Isaak“).
Bedenkt man all das bisher Gesagte nicht mit, kann man die Hl. Schrift leicht missverstehen und so zu falschen Deutungen gelangen.                                             Ulrich Middeke

Gerhard Lohfink: Die Bibel. Gottes Wort in Menschenwort, Stuttgart 1967.

Die Bibel ist inspiriert, das heißt, sie hat Gott zum Urheber, sie ist ganz Gottes Wort. Meist stellen sich die katholischen Theologen den Vorgang der Inspiration in der (…) Weise vor, dass die Evangelisten nach Art guter selbständiger Sekretäre gearbeitet hätten. (…)
Oft werden eben auch die besten Sekretäre nur zum reinen Diktat herbeigeholt. Ihr eigener Anteil an dem fertigen Schriftstück ist dann minimal. Ganz anders bei der  Bibel! Hier sehen wir heute viel deutlicher (…), wie groß der menschliche Anteil an diesem Buche ist. (…)
Jede Übersetzung ist ein Kompromiss. Es wird niemals eine ideale Übersetzung geben. (…) Das ist die Menschlichkeit des Gotteswortes. (…)
Mit der Sicherung und genauen Wiederherstellung des Urtextes beschäftigt sich heute in der ganzen Welt eine große Zahl von Bibelwissenschaftlern. Trotzdem werden wir nie bis in die letzen Einzelheiten hinein den Text zurückerhalten, den ganz am Anfang die neutestamentlichen Verfasser niedergeschrieben haben. Manche Textverderbnisse werden nicht mehr zu verbessern sein. Auch das ist die Menschlichkeit des Gotteswortes. (…)
Es könnte jetzt gezeigt werden, dass jeder Evangelist seinen eigenen Stil hat, (…), dass also jeder Evangelist so schreibt, wie es seiner Umwelt und seiner menschlichen Veranlagung entspricht, dass also (…) auch im persönlichen Stil der Evangelisten ganz die Menschlichkeit des Gotteswortes zum Zuge kommt. (…)
Die Mündliche Überlieferung hat viele Jesusworte verloren gehen lassen, (…), und dass das eine überliefert wurde, anderes wieder nicht, mag so manches Mal reiner Zufall gewesen sein. Die Menschlichkeit des Gotteswortes! (…)
Da Jesus schon vor 2000 Jahren Mensch wurde, (…) werden wir viele unserer Probleme nicht im Neuen Testament finden. Auch das ist schließlich die Menschlichkeit und Zeitgebundenheit des Gotteswortes.
Die Bibel als Gottes Wort (…); Die gesamte neutestamentliche Verkündigung hat im Grunde genommen nur ein Thema, nämlich Jesus Christus. In Jesus Christus hat Gott selbst gesprochen. Wenn die Botschaft von Jesus Christus verkündet wird, dann spricht Gott zu uns. (…) Das Neue Testament ist Gottes Wort, das dieser an uns richtet. (…)
Das Wort Gottes ist so menschlich, so verhaftet mit der Menschlichkeit unserer Geschichte, weil Gott selber Mensch geworden ist. (…)
Wenn wir hören, dass Gott gerade im Wort von Menschen zu uns spricht, dann ist das für uns glaubwürdig, weil wir wissen, dass das Wort Gottes selbst Mensch geworden ist.

Aufgaben:
1) Setze die Aussagen der Autoren miteinander in Bezug.
2) Welche Unterscheidung trifft der erste Text in Bezug auf die biblischen Aussagen?
3) Nenne Beispiele für den menschlichen Anteil am Gotteswort!
4) Wie ist folgender Satz zu verstehen: „Die Bibel will nicht wörtlich genommen werden,
sondern beim Wort!“

Zum Verständnis der biblischen Berichte:
1. Biblische Berichte sind immer auch Glaubenszeugnisse, nie reine Tatsachenberichte.
2. In der Bibel sind sehr verschiedene Textgattungen und -sorten enthalten, die im Verlauf von mehreren Jahrhunderten entstanden sind und sich dementsprechend auch veränderten.
3. Zum vollen und richtigen Verständnis der Texte ist es auch wichtig, den historischen Hintergrund, die Aussageabsicht des Autors und die Zielgruppe zu kennen.
4. Die Texte der Bibel sind nie frei erfunden, sondern verweisen immer auf ein historisches Ereignis.
5. Das Alte Testament und das Neue Testament gehören zusammen, sie ergänzen sich.
6. Für den christlichen Glauben wird das Reden von Gott im AT erst durch die Berichte vom Leben, Sterben und der Auferweckung Jesu in vollem Umfang verständlich.
7. Das NT versteht sich als Erfüllung der Verheißung Gottes, die im AT aufgeschrieben wurde.
8. Die Berichte über Jesus sind nach dem Ereignis formuliert worden, das im NT als “Auferweckung” beschrieben wird.
9. Diese rückblickenden neutestamentlichen Berichte wollen darstellen und belegen, dass Gott in Jesus sichtbar geworden ist und dass Jesus auferweckt wurde. Eine historische Darstellung des Lebens und Wirkens Jesu war nicht beabsichtigt.
10. Alle Berichte der Bibel sind die Auslegung des einen Grundbekenntnisses:

Gott ist in allem mächtig.
Daher haben wir eine Gemeinschaft mit Gott, die Leben und Tod überdauert.

Beispiele zum Verständnis biblischer Berichte:

1. Israels Kriege:

(8)Sieg über die Amalekiter

Da kam (a) Amalek und kämpfte gegen Israel in Refidim.
(9)Da sprach Mose zu (a) Josua: Erwähle uns Männer, zieh aus und kämpfe gegen Amalek. Morgen will ich oben auf dem Hügel stehen mit dem Stab Gottes in meiner Hand.
(10)Und Josua tat, wie Mose ihm sagte, und kämpfte gegen Amalek. Mose aber und (a) Aaron und Hur gingen auf die Höhe des Hügels.
(11)Und wenn Mose seine Hand emporhielt, siegte Israel; wenn er aber seine Hand sinken ließ, siegte Amalek.
(12)Aber Mose wurden die Hände schwer; darum nahmen die beiden einen Stein und legten ihn hin, dass er sich daraufsetzte. Aaron aber und Hur stützten ihm die Hände, auf jeder Seite einer. So blieben seine Hände erhoben, bis die Sonne unterging.
(13)Und Josua überwältigte Amalek und sein Volk durch des Schwertes Schärfe.
(14)Und der HERR sprach zu Mose: Schreibe dies zum Gedächtnis in ein Buch und präge es Josua ein; denn ich will Amalek unter dem Himmel austilgen, dass man seiner nicht mehr gedenke. (a)
(15)Und Mose baute einen Altar und nannte ihn: Der HERR mein Feldzeichen.
(16)Und er sprach: Die Hand an den (a) Thron des HERRN! Der HERR führt Krieg gegen Amalek von Kind zu Kindeskind.

2 Mose 18,1 – 16

Diesen Text kann ich, mit ein wenig historischem Gespür, auch ganz ohne jeden religiösen Hintergrund verstehen:
Die Gruppe, die sich um Moses versammelt hat, ist noch nicht sesshaft, sucht aber nach einer dauerhaften Bleibe. Im Laufe dieser Zeit treffen sie aber immer wieder auch auf feindliche Völker, die sich gegen die Eindringlinge wehren, weil sie in ihnen einen unkalkulierbaren Unsicherheitsfaktor sehen. Im obigen Bericht wird eine solche Auseinandersetzung geschildert: Die Amalekiter, eine starkes, wehrhafte und zahlenmäßig überlegene Armee, fordert die semitische Gruppe heraus, um sie endgültig zu vernichten. Die Chancen für Moses und seine Streiter stehen schlacht, sie haben gegen die Übermacht keine Chance. In dieser verzweifelten Situation erinnert Moses – wieder einmal – an die Grundlage des gemeinsamen Lebens: an den Glauben an Gott, der sie bisher immer wieder, auch aus den ausweglosesten Situationen, gerettet hat.
Moses legt mit seinen militärischen Führern die Kampfstrategie fest und er erklärt, dass er sich während des Kampfes auf einem Hügel aufhalten und dort beten wird. Er will moralische Unterstützung sein und sich den Soldaten zeigen. Als Symbol der Stärke – David gegen Goliath – will er das Zeichen der Zuversicht sein. In der modernen Militärsprache heißt das: psychologische Kriegsführung.
Und tatsächlich: Der Plan geht auf, die Moseschar trägt gegen die erdrückende Übermacht den Sieg davon – und dankt Gott für seine Hilfe.
Nirgends im Text ist ein mirakulöses Eingreifen Gottes vermerkt, nirgendwo greift er zu den Waffen. Aber: die Menschen, die an ihn glauben, fühlen sich durch den Glauben gestärkt und ermutigt. In diesem Sinne kann man, analog zu den Heilungswundern im NT, sagen: dein Glaube hat dir den Sieg geschenkt.

Nun ist es gerade in der heutigen Zeit sehr wichtig, bei solchen Mechanismen und Fragen Vorsicht walten zu lassen: auch jeder religiöse Fanatiker erklärt Gott/Allah/Jahweh zu seinem direkten Verbündeten und zieht dann los in seinen ganz persönlichen Krieg. Wenn ich aber z.B. den hier vorliegenden Text in einer solchen Art und Weise verfälsche und missverstehe, dann ist gerade das ein deutlicher Beleg dafür, dass eine ahistorische Lesweise der Bibel große Gefahren in sich birgt – weit darüber hinaus, dass der gemeinte Inhalt nicht erkannt werden kann.
Die Grundaussage dieses Berichtes lautet: Ich kann auf meinen Gott vertrauen, auch wenn alle äußeren Gegebenheiten gegen mich sprechen. Mit den Worten von Paulus: Wenn Gott für uns ist, wer ist dann gegen uns?
Und in der damaligen Zeit gehörten kriegerische Auseinandersetzungen zum Leben dazu. Es hat ja auch in der Moderne lange Zeit gedauert, bis den vernünftigen Menschen klar wurde, dass Krieg kein Mittel der politischen Auseinandersetzung mehr sein darf.
Manchen Politikern fehlt diese Einsicht bis heute.

Ein weiteres Beispiel:

„Du wirst ein Kind empfangen.“ Maria sagte zu dem Engel: „Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“ Der Engel antwortete ihr: „Der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten.“ (Lk 1, 31 – 34)

Die Jungfrauengeburt gilt heute vielen Menschen als ein Beispiel für die Unglaubwürdigkeit bzw. den Märchencharakter vieler biblischer Aussagen. Hierbei handelt es sich jedoch um ein Missverständnis, das es aufzuklären gilt.

1.) Die Rede vom göttlichen Kind, das aus der Jungfrau geboren wird, ist der Hebräischen Bibel (Altes Testament) nicht bekannt. In der berühmten Immanuel-Wahrsagung des Propheten Jesaja (7,14) ist nur von einer “jungen Frau” (hebr. “alma”) die Rede, die einen Sohn gebären wird, dem sie den Namen „Immanuel” (“Gott mit uns”) gibt.
In der griechischen Übersetzung allerdings wird „alma” (fälschlicherweise) mit „parthenos” (Jungfrau) wiedergegeben. So ist das Glaubenssymbol der Jungfrauengeburt schließlich in die beiden Kindheitsgeschichten Jesu in den Evangelien von Matthäus und Lukas eingegangen.

2.) Die biblische Jungfrauengeburt ist nicht beispiellos. In der Antike von Ägypten bis Indien war die Jungfrauengeburt ein verbreiteter Mythos, der die herausragende Bedeutung eines Menschen bezeugen sollte. Dennoch gibt es bedeutende Unterschiede zwischen den anderen antiken Jungfrauengeburten und der biblischen Erzählung. So vollzieht sich z.B. die Ankündigung und Annahme des Empfängnisgeschehens bei Maria in einem völlig unerotischen, vergeistigten Zusammenhang.

3.) Biologisch ist die Parthenogenese u.a. bei Insekten üblich, beim Menschen Jedoch unmöglich. Doch will diese Erzählung weder ein historischer Bericht, noch eine biologische Erläuterung über die Entstehung von Leben sein, sondern eine Glaubensaussage, die die Wirklichkeit deutet.
Mögliche Versuche, in der Jungfrauengeburt einen Wunderbeweis zu sehen, sind nicht nur unnötig, sondern setzen auch den eigentlichen theologischen Gehalt aufs Spiel. So ist nämlich die Jungfrauengeburt nicht primär eine Aussage über Maria, sondern eine über Jesus mit der Absicht, diesen von Beginn seiner Existenz an als Mensch und Gott auszuweisen. Durch seine menschliche Mutter ist Jesus wirklich Mensch und allen Menschen gleich; durch seinen göttlichen Vater ist er wirklich Gott.
Mit diesem Wahrheitsanspruch ist die Rede von der Jungfrauengeburt auch heute noch sinnvoll und berechtigt. Zudem ist die Jungfrauengeburt ein tiefes Symbol für die bedingungslose Annahme des Gottesrufes und den Neuanfang Gottes mit uns Menschen durch Jesus Christus.

  • Aufgabe: Die Jungfrauengeburt gilt als Beweis für den Märchencharakter der Bibel.  Nimm unter Bezugnahme auf den Text begründet Stellung zu dieser Ansicht!