Auf der Suche

Nazareth war ein kleines Dorf im Norden Israels. Einige hundert Einwohner lebten zumeist in einfachen, in Felsen gehauenen Felsenhöhlen, einige wenige konnten sich schon selbstgebaute Lehmhäuser leisten. Im Zentrum des Dorfes lag die Synagoge, das Bethaus, in dem sich wöchentlich zum Sabbat die Männer versammelten, um zu Gott zu beten und um über die römische Besatzungsmacht zu schimpfen.
Josef, Maria und ihre Kinder lebten mehr unauffällig und rechtschaffend durch das Geschick der Hände Josefs, denn er war Zimmermann. Zugleich widmete er sich in seiner Freizeit aber intensiv dem Studium der heiligen Schriften, denn er war sehr fromm und ein angesehenes Mitglied der Synagoge. Sein Name war sogar schon im Tempel in Jerusalem bekannt. Vielleicht kam das daher, dass sich sein Sohn Jesus schon recht früh mit den Überlieferungen des jüdischen Volkes beschäftigte und die Geschichten des Moses und der Propheten studierte. Solange er deswegen nicht seine Aufgaben in der Werkstatt vernachlässigte, ließ Josef ihn gewähren, ja er sah es sogar mit Wohlgefallen. Sollte sich das Interesse am Studium erhalten, wer weiß, vielleicht könnte er seinem Sohn später sogar die Möglichkeit verschaffen, eine zeitlang im Tempel zu lernen…
Nachdem Jesus viele Jahre recht unbeachtet in seinem Heimatdorf gelebt hatte, erregte er durch seine revolutionären und visionären Anschauungen, die er auch keineswegs für sich behielt, sondern die er zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit in der Synagoge laut verbreitete, einige Aufmerksamkeit. Dies führte letztendlich dazu, dass sich auch seine Familie von ihm abwandte und meinte, er sei von Sinnen. Nach einem Gottesdienst entging er nur knapp dem Tod, als ihn die versammelte Gemeinde wegen Gotteslästerung den Felsen hinunter stürzen wollte.

Und das kam so:
Jesus hatte vor einiger Zeit, er war schon bald dreißig Jahre alt, sein Dorf verlassen und sich auf Wanderschaft begeben. Es waren unruhige Zeiten, und immer wieder hörte man, der Messias, von dem sich alle die Befreiung von den Römern erhofften, sei nahe. Wanderprediger zogen durch das Land und sammelten Anhänger um sich und immer wieder gab es bewaffnete Aufstände, die mit der gleichen Regelmäßigkeit blutig niedergeschlagen wurden.
Zu dieser Zeit war gerade ein besonders asketischer und charismatischer Prediger berühmt, der, so hieß es, eine Weile bei  einer  Sekte  zugebracht haben  sollte. Der Zufall (?) wollte es, dass er Jesu Cousin war. Maria, die Mutter Jesu, und Elisabeth, die Mutter dieses Mannes mit Namen  Johannes, waren Schwestern. Johannes hatte mit seiner Drohbotschaft schon viele Menschen beunruhigt, die dann hinaus in die Wüste gingen, um sich von ihm taufen zu lassen, angeblich zur Vergebung ihrer Sünden.
Er war aber auch ein komischer Kauz, der sich tatsächlich in die Wüste zurück gezogen hatte und sich ausschließlich von Honig und Heuschrecken ernährte. Dann stellte er sich bis zu den Hüften in den Jordan und predigte vom bevorstehenden Weltuntergang, von der  Buße und  davon, dass alle Menschen, die sich nicht von ihm taufen ließen und sich zu Gott bekehrten, verloren seien.
Natürlich hörte sich das alles nicht besonders attraktiv und realistisch an und man könnte meinen, dass sich niemand um einen solchen Prediger kümmern würde. Aber: wie gesagt, die Zeiten waren unruhig und viele Menschen  warteten geradezu auf ein prophetisches Zeichen von Gott. Die Messiashoffnung war mit jedem Atemzug zu spüren und sie wuchs immer noch weiter.
Deshalb also gingen viele Menschen zu ihm und schlossen sich seiner Bewegung an. Er war ja auch in vielem glaubwürdig, denn er predigte nichts anderes als das, was er auch selber vorlebte: Bedürfnislosigkeit, Einfachheit, Frömmigkeit, Gottergebenheit.
Ganz anders als die Priester im Tempel, die dem Volk Wasser predigten und selbst den besten Wein tranken und obendrein noch mit den Römern kungelten. Auf diese „Heiligkeit“ setzte kaum noch jemand irgendeine Hoffnung.
Von Johannes bekamen sie das auch mit sehr deftigen Worten zu hören:
„Ihr Schlangenbrut!“; schrie er einmal einige Sadduzzäer an, die seine Reden überwachen wollten. „Glaubt ihr denn, dass ihr dem kommenden Gericht entkommen werdet? Bringt ersteinmal Früchte hervor, die zeigen werden, dass ihr den Weg der Sünden verlassen habt und umgekehrt seid. Beruft euch nicht auf eure Priesterschaft, das reicht bei weitem nicht.  Gott  selbst  hat  schon  seine  Axt  an  diese Priesterwurzel gelegt; jeder Baum, der keine Frucht bringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen.“
Auf diese Art und Weise machte er den Tempel immer wieder lächerlich. Natürlich hätten die religiösen Führer des Landes dem gern einen Riegel vor geschoben, aber Johannes hatte zu viele Anhänger im Volk. Hinzu kam, dass es in der Geschichte Israels ja nun wirklich genügend Propheten gegeben hatte, man denke nur an Jeremias, die durch ihr absonderliches Verhalten besondere  Aufmerksamkeit erregten und denen gleichzeitig aber auch große Achtung, ja teilweise sogar Verehrung, entgegen gebracht wurde.
Daher war es schon fast so etwas wie eine Tradition, dass diese merkwürdigen Exzentriker eine ganz besondere Form von „Artenschutz“ genossen.
Von Johannes erzählte man sich mittlerweile, dass er mindestens der zurückgekehrte Elias sei, wenn  nicht  sogar der langerwartete Messias. Wie schon gesagt: die Zeit war reif und überall wurde er gewittert, der Messias….
Endgültig überzogen und überstrapaziert hatte Johannes die Geduld der Herrschenden erst später – aber es waren seltsamerweise diesmal nicht die Priester, die er herausforderte und deren Wut er fürchten musste, sondern ausgerechnet dieser Lebemann Herodes, diese eingesetzte Marionette der Römer war es, der seinem öffentlichen Wirken und später auch seinem Leben ein Ende bereitete.
Natürlich war es nicht ganz fein, dass sich Herodes ausgerechnet die Frau seines Bruders Philippus als Herzensdame ausgesucht hatte. Klar war auch, dass das nach streng religiösen Gesichtspunkten ein Verstoß gegen die Vorschriften des Moses war. Aber wer konnte Herodias, dieser außergewöhnlichen Schönheit, die dem Herodes eben leider nur etwas zu spät aufgefallen war, wer konnte dieser Frau also schon widerstehen? Herodes jedenfalls nicht.
Aber, vor allem:, wer wollte einem König daraus einen Vorwurf machen? Zumindest in der Öffentlichkeit war es doch unmöglich, sich dagegen aufzulehnen.
Aber nicht für Johannes.
Der posaunte in alle Welt hinaus, dass Herodes ein alter, fetter Lüstling sei, der sich die Frau des eigenen Bruders ins Bett geholt hätte und den man nach dem Gesetz des Moses hinrichten müsste.
Als er nicht damit aufhörte, den König in dieser Art und Weise zu kritisieren  und ihn im Volk unmöglich zu machen, wurde er verhaftet. Aber selbst in den Verließen des Königshofes war seine Macht und sein Ansehen noch so groß, dass Herodes es nicht wagte, ihn hinzurichten. Das geschah erst später und hatte andere Ursachen…
Dieser Mann also hatte es auch Jesus angetan. Beim Studium der Heiligen Schriften hatte er sich seine eigene Meinung gebildet. Es war eine große Ungeduld, die ihn  erfasst hatte. Die Worte der Thora waren so stark, so sicher, so Trost spendend, so von  Gottes  Liebe  erfüllt,  dass  er  es  nicht   verstand,  dass  viele Menschen zwar die Buchstaben lasen, vielleicht sogar den Sinn verstanden, ihr Leben aber davon unberührt blieb.
Das war für Jesus zu wenig. Er war zwar gerne Zimmermann, aber auf die Dauer reichte ihm das nicht.
So verließ er eines Tages sein Heimatdorf, um sich nach anderen Menschen umzuschauen, die genauso auf der Suche waren, wie er.
Auf diesem Weg kam er auch zu Johannes.
Schon die erste Begegnung der beiden war prickelnd, eine Spannung lag in der Luft, denn es hatten  sich zwei wahrhaft aufrechte Menschen getroffen, die sich nur in einem unterschieden: Johannes hatte seinen Weg und seine Bestimmung schon gefunden, Jesus war noch auf der Suche. Dennoch erkannte Johannes im Wesen Jesu diese Art Verwandtschaft, die noch über die familiäre Blutsbande hinausging, dieses Radikale, dieses innere Feuer.
Und Jesus sah in Johannes den Menschen, der Ernst machte mit seinem Glauben, der sein Leben wirklich in den Dienst Gottes stellte und der die Jahrhunderte alten Werte der Väter und Propheten neu belebte.
Also ließ sich auch Jesus von Johannes im Jordan taufen.
Eigentlich lag es nahe, sich dieser Bewegung um Johannes anzuschließen und so ein Teil des Ganzen, ein Teil der neuen Wirklichkeit zu werden. Nach einiger Zeit, und nach ungezählten intensiven Gesprächen  mit Johannes und mit vielen Menschen, die ihn verehrten, verließ Jesus aber  den  Jordan und die Johannesschar, um seinen eigenen Weg zu finden. Er war der festen ÜÜberzeugung, die sich in der Tiefe seiner Seele gründete, dass die Liebe Gottes seinem eigenen und auserwählten Volk geschenkt war und dass diese Liebe stärker als die Angst sein konnte. Auch stärker als die Angst vor den Römern. Gott würde SEIN Volk nicht im Stich lassen, niemals. Und diese Liebe war auch mit dem Tod nicht beendet – sie hörte niemals auf. Aus diesem Grund war Jesus auch gegen die bewaffneten Überfälle der Zeloten und Sikarier, die sich als Freiheitskämpfer verstanden. Sie waren strategisch hervorragend organisiert und griffen die römischen Soldaten immer wieder handstreichartig aus dem Hinterhalt an. Für Jesus war diese Art von Widerstand von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Morde, auch  wenn sie an den Römern begangen wurden, waren nach seinem Verständnis sogar eine Abkehr von Gottes Liebe. Denn: wie sollte ein äußerer Friede erzwungen werden,den jeder Mensch doch nur in seinem Inneren finden konnte? Das war die Botschaft Gottes:
„Ihr braucht keine Angst zu haben, zumindest braucht ihr nicht aus dieser Angst heraus zu handeln und schon gar keine Menschen umzubringen – auch keine Römer.“
Mit dieser Zusage der Liebe Gottes zog Jesus durch die Dörfer der Umgebung und erregte einiges Aufsehen. Immer, wenn jemand überzeugend eine neue These vortrug, entbrannte bei den Menschen ein heftiger Streit über den Sinn und Unsinn dieser neuen Anschauung.
So erging es auch der Botschaft Jesu.
In dieser bedeutungsschwangeren Zeit allerdings, in der viele Juden schon das Ende der Welt nahen sahen und fest an die kurz bevorstehende Ankunft des Messias glaubten, wirkten sich die Predigten Jesu, die zum Teil genau das trafen, was einige seiner Zuhörer schon lange verzweifelt suchten – nämlich den inneren Frieden – zum Teil sehr heftig aus. Verzweifelte Männer ohne Brot und Arbeit fanden einen neuen Sinn in ihrem Leben; Ausgestoßene fassten neue Hoffnung, weil  sie  einen  Menschen  erlebten, der sich nicht von ihnen abwandte; Menschen, die sich in den Wirren der Zeit verirrt hatten, fanden eine neue Orientierung und kehrten verändert nach Hause zurück und einige seiner Zuhörer blieben nach seinen Reden bei ihm und baten darum, ihn begleiten zu dürfen. Sie hatten in Jesus einen neuen, ihren Messias gefunden.
Jesus spürte diese Macht, die aus seinen Reden erwuchs. Er spürte, dass seine Worte wirkten und er merkte auch, dass sich sein Name herumsprach. Denn wenn er in ein neues Dorf kam, dann begegneten ihm viele Bewohner schon mit Neugier, aber auch mit unverhohlener Ablehnung. Natürlich erfüllte Jesus die Wirkung seiner Reden auch mit Stolz und Freude und er lernte die Macht kennen, die er mit Worten ausüben konnte. Eine verführerische Macht.
Aber er war weitsichtig genug, um auch die Verführung zu spüren, die in dieser Macht wohnte: die Verführung, sich über die anderen Menschen zu erheben und ihr Führer zu werden, dem sie sich auf Gedeih und Verderb anvertrauten. Das war der Punkt, an dem Jesus ins Grübeln kam: „Geht es jetzt wirklich noch um die Botschaft Gottes, die ich weiter geben will oder geht es nur um mich?“
Um sich darüber Klarheit zu verschaffen ging er in die Wüste zurück, um zu beten, zu meditieren, zu fasten und sich seiner Berufung zu vergewissern.
In dieser abgeschiedenen Zeit, in dieser Umgebung, die so trostlos wirkte, dass schon wieder ein eigener Reiz darin lag, kam er zur Ruhe, zu sich selbst und ihm wurde noch einmal klar, welche Möglichkeiten er hatte:
Wenn er seine Karten richtig ausspielte, dann könnte er seine Macht, sein Ansehen, seine Popularität noch unermesslich steigern.
Er hätte ausgesorgt.
Nie wieder müsste er sich Gedanken machen, ob morgen genügend Geld da wäre, um Essen einkaufen zu können (ein Gedanke, mit dem seine Mutter sich jeden Abend schlafen legte und am nächsten Morgen wieder aufwachte).
Der Zulauf von Menschen war in den letzten Wochen so stark gewesen, dass er, wenn er es geschickte anstellte, sicherlich auch Einfluss auf den Tempel, auf das Synhedrion,den Hohen Rat der Juden, ausüben  könnte. Wer  weiß,  vielleicht  könnte sich die Geschichte sogar so weit entwickeln:.Hoher Priester … König…nichts war unmöglich.
Einige redeten ja jetzt schon hinter vorgehaltener Hand von dem neuen Messias für ganz Israel.
Und dieser römische Vasall Herodes-Antipas, Sohn von Herodes dem Großen, hatte seinen Posten nur auf Grund seiner Familiengeschichte und der Gnade der Römer. Nur deshalb nannte er sich „König der Juden“, obwohl er im ganzen Volk nicht den geringsten Rückhalt hatte. Bei einer ehrlichen Wahl, wie es die Tradition vorsah, hätte er nicht die geringste Chance gehabt. Jesus hingegen…
Jesus merkte, wie sich seine Gedanken im Kreis drehten und wie die Macht lockte. Der Preis dafür wäre recht hoch. Es stand einiges auf dem Spiel. Nein, ein Spiel war es längst nicht mehr. Es ging um alles: um seine Redlichkeit, seine Ehrlichkeit, seine ÜÜberzeugung, seinen Glauben. Es war ein hartes Ringen für Jesus, denn die Möglichkeiten, die er hatte, standen im Raum und sie waren nicht unrealistisch.
Dann stand für ihn fest:
Der Preis ist zu hoch.