Der Existenzialismus

Bekannte Vertreter des Existenzialismus sind Soren Kierkegaart, Albert Camus und Jean Paul Sartre (1905 – 1980).
Eine wichtige Grundanschauung des Existenzialismus ist, dass die Existenz der Essenz vorausgeht. Das bedeutet, dass der Mensch existiert und im Laufe seines Lebens dieses durch freie Handlungen und Taten selbst gestalten und seine Persönlichkeit ausbilden kann. In diesem Handeln entwickelt jeder Mensch seine Essenz – das, was seinem Leben Sinn und Gehalt gibt. Diese Einstellung beinhaltet, dass es keinen Gott gibt, der dem Menschen sein Wesen und seinen Wert mit ins Leben gibt und ihn dadurch prägt. Der Existenzialismus will somit eine atheistische Sichtweise des Lebens beschreiben, die Religion als Vertröstung und Verschleierung der wahren Existenz ansieht.
Beim Existenzialismus wird daher auch vorausgesetzt, dass der Mensch bei allen seinen Handlungen die volle Verantwortung tragen muss und es für diese weder eine Rechtfertigung, noch eine Entschuldigung gibt. In bestimmten Grenzsituationen, in denen der Mensch frei handeln muss, steht er letztlich allein da und ist sich selber überlassen. Deshalb ist er “zur Freiheit verdammt” (Sartre), seine Handlungen allein zu bestimmen. Somit besteht die Freiheit in der Möglichkeit, sich selber zu entwerfen. Der Tod ist dann das Ende der Selbstgestaltung des Menschen und der Mensch ist dann das, was er vollbracht hat. Der Tod ist Absurd. Das ergibt sich aus dem Vergleich zwischen Sein und Vergänglichkeit. Glück erfährt der Mensch, indem er das Absurde akzeptiert und nicht dagegen angeht, denn die Absurdität ist nicht auflösbar und entstammt der selben Welt wie das Glück.
Ein Beispiel für das Absurde stellt die Legende des Sisyphos dar:

Sisyphos
Die Götter hatten Sisyphos dazu verurteilt, unablässig einen Felsblock einen Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel der Stein von selbst wieder hinunterrollte. Sie hatten mit einiger Berechtigung bedacht, dass es keine fürchterlichere Strafe gibt als eine unnütze und aussichtslose Arbeit.
Wenn man HOMER Glauben schenken will, war Sisyphos der weiseste und klügste unter den Sterblichen, Nach einer anderen Überlieferung jedoch betrieb er das Gewerbe eines Straßenräubers. Ich sehe darin keinen Widerspruch. Über die Gründe, weshalb ihm in der Unterwelt das Dasein eines unnützen Arbeiters beschert wurde, gehen die Meinungen auseinander. Vor allem wirft man ihm eine gewisse Leichtfertigkeit im Umgang mit den Göttern vor. Er gab ihre Geheimnisse preis. Egina, die Tochter des Asopos, wurde von Jupiter entführt. Der Vater wunderte sich über ihr Verschwinden und beklagte sich darüber bei Sisyphos. Der wusste von der Entführung und wollte sie Asopos unter der Bedingung verraten, dass er der Burg von Korinth Wasser verschaffte. Den himmlischen Blitzen zog er den Segen des Wassers vor. Dafür wurde er in der Unterwelt bestraft. HOMER erzählt uns auch, Sisyphos habe den Tod in Ketten gelegt. Pluto konnte den Anblick seines stillen, verödeten Reiches nicht ertragen. Er verständigte den Kriegsgott, der den Tod aus den Händen seines Überwinders befreite.
Außerdem heißt es, Sisyphos wollte, als er zum Sterben kam, törichterweise die Liebe seiner Frau erproben. Er befahl ihr, seinen Leichnam unbestattet auf den Markt zu werfen. Sisyphos kam in die Unterwelt. Dort wurde er von ihrem Gehorsam, der aller Menschenliebe widersprach, derart aufgebracht, dass er von Pluto die Erlaubnis erwirkte, auf die Erde zurückzukehren und seine Frau zu züchtigen. Als er aber diese Welt noch einmal geschaut, das Wasser und die Sonne, die warmen Steine und das Meer wieder geschmeckt hatte, wollte er nicht mehr ins Schattenreich zurück. Alle Aufforderungen, Zornausbrüche und Warnungen fruchteten nichts. Er lebte noch viele Jahre am Golf, am leuchtenden Meer, auf der lächelnden Erde und musste erst von den Göttern festgenommen werden. Merkur packte den Vermessenen beim Kragen, entriss ihn seinen Freuden und brachte ihn gewaltsam in die Unterwelt zurück, in der sein Felsblock schon bereitlag. –
Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos (zuerst 1942)

Sisyphos ist im existenzialistischen Sinn gerade deswegen ein glücklicher Mensch, weil er nachdenkt, weil er lebt, weil er das Absurde durchschaut und es annimmt, ohne sich in eine der zahlreichen Illusionen zu stürzen. Er verschwendet seine kostbare Zeit nicht damit, sich sinnloser Weise gegen das Absurde zu wenden und einen aussichtslosen Kampf zu führen.. Er sieht die Essenz seiner Existenz gerade darin, den Stein  immer wieder den Berg hinauf zu rollen. Das ist seine Arbeit, seine Aufgabe, sein Sinn. Und indem er diesen Sinn erkennt, stellt er sich über die angeblichen Götter, die nun keine Macht mehr über ihn haben, denn er ist frei in seinem Tun.
Die Parallele zu unserer persönlichen Lebensgestaltung sind augenfällig: Wir werden jeden Morgen wieder aufs Neue wach und beginnen unser Tagwerk. Wir müssen die Mühen unseres Lebens auf uns nehmen – immer wieder und immer wieder. Es hat keinen Sinn, das in Frage zu stellen oder auch nur nach dem Sinn zu fragen. Der Sinn besteht darin, dass wir leben und unser Leben gestalten – in der ganzen radikalen Freiheit, die uns geschenkt ist, zu der wir verdammt sind. Wir können an und in diesem Leben verzweifeln, wenn wir uns in Illusionen stürzen oder wenn wir uns der persönlichen Lebensgestaltung verweigern – denn es gibt im tiefen Grunde unserer Essenz nichts und niemanden, der uns stützt, trägt, hält, außer uns selbst.
Sisyphos würde das Menschsein verleugnen, wenn er sich gegen sein ihm selbst bestimmtes Schicksal stemmen würde. Dann wäre seine Arbeit tatsächlich sinnlos und eine grausame Strafe. Da es ihm bestimmt ist, seine Freiheit selbst zu gestalten, ist er auch in der Lage, diese Absurdität selbst zu gestalten.

Jean-Paul Sartre: Die Existenz geht der Essenz voraus

Die Existenz geht der Essenz voraus, man muss von der Ichheit ausgehen.
Betrachtung eines Artefakt, z.B. ein Buch o. ein Messer, so ist dieser Gegenstand von einem Handwerker angefertigt worden, er hat sich von einem Begriff anregen lassen, d.h. er hat sich auf einen Begriff bezogen und zugleich auf einen zuvor bestehende Technik, die zu dem Begriff gehört.

Wir können also sagen, dass in Bezug auf ein Messer die Essenz – d.h. die Summe der Rezepte und der Eigenschaften, die erlauben es anzufertigen und es zu bestimmen – der Existenz vorausgehen.

Jean-Paul Sartre: Die Existenz geht der Essenz voraus
Es gibt zwei existentialistische Schulen
[…]Verwickelt werden die Dinge dadurch, dass es zwei Arten von Existentialisten gibt: die ersten, welche Christen sind, unter die ich Jaspers und Gabriel Marcel (dieser katholischer Konfession) einreihen würde; und auf der andern Seite die atheistischen Existentialisten, zu denen Heidegger und auch die französischen Existentialisten und ich selber zu stellen sind. Gemeinsam haben sie die ÜÜberzeugung, dass die Existenz der Essenz vorangehe, oder, wenn Sie wollen, dass man von der Ichheit ausgehen muss. Was soll man genauer darunter verstehen?
Betrachten wir ein Artefakt, zum Beispiel ein Buch oder ein Papiermesser, so ist dieser Gegenstand von einem Handwerker angefertigt worden, der sich von einem Begriff hat anregen lassen, er hat sich auf den Begriff Papiermesser bezogen und zugleich auf eine vorher bestehende Technik der Erzeugung, welche zu dem Begriff gehört und im Grunde ein Rezept ist. Somit ist das Papiermesser zugleich ein Gegenstand, der auf eine bestimmte Art hergestellt wird und anderseits eine bestimmte Verwendung hat; und man kann sich nicht einen Menschen vorstellen, der ein Papiermesser anfertigte, ohne zu wissen, wozu der Gegenstand dienen soll. Wir werden also sagen, dass in bezug auf das Papiermesser die Essenz – das heißt die Summe der Rezepte und der Eigenschaften, die erlauben, es anzufertigen und es zu bestimmen – der Existenz vorangeht, und so ist die Anwesenheit mir gegenüber solch eines Papiermessers oder solch eines Buches determiniert. Wir haben also hier ein technisches Bild der Welt, in der, kann man sagen, die Erzeugung der Existenz vorausgeht.
Wenn wir einen Schöpfer-Gott annehmen, so wird dieser Gott meistens einem höherstehenden Handwerker angeglichen; und was für eine theologische Lehre wir auch betrachten, ob es sich um eine Lehre wie die von Descartes oder von Leibniz handelt, wir räumen immer ein, dass der Wille mehr oder weniger dem Verstand folgt oder ihn wenigstens begleitet, und dass Gott, wenn er schafft, genau weiß, was er schafft.

Der Mensch und Gott in der Philosophie des 17. Jahrhunderts

Demnach ist der Begriff Mensch im Geiste Gottes dem Begriff Papiermesser im Geiste des Handwerkers anzugleichen, und Gott erzeugt den Menschen nach Techniken und einem Begriff, genau wie der Handwerker ein Papiermesser nach einer Definition und einer Technik anfertigt. So verwirklicht der individuelle Mensch einen bestimmten Begriff, der im göttlichen Verstande ist. Im 18. Jahrhundert wird in den atheistischen Lehren der Philosophen der Begriff Gottes abgeschafft, aber nicht ebensosehr die Idee, dass die Essenz der Existenz vorangehe.

Die menschliche Natur bei den Philosophen des 18. Jahrhunderts
Diese Idee finden wir sozusagen überall wieder: wir finden sie bei Diderot, bei Voltaire
und selbst bei Kant wieder. Der Mensch ist Eigentümer einer menschlichen Natur; diese menschliche Natur, welche der Begriff des Menschen ist, findet sich bei allen Menschen wieder. Dies bedeutet, dass jeder Mensch ein besonderes Beispiel eines allgemeinen Begriffes “Der Mensch” ist. Bei Kant geht aus dieser Allgemeinheit hervor, dass sowohl der Urwaldmensch, der Naturmensch, wie der Bürger derselben Begriffsbestimmung unterworfen ist und dieselben Grundeigenschaften besitzt. Somit geht auch hier noch die Essenz des Menschen jener geschichtlichen Existenz voraus, der wir in der Natur begegnen.

Der atheistische Existentialismus
Der atheistische Existentialismus, für den ich stehe, ist zusammenhängender. Er erklärt, dass, wenn Gott nicht existiert, es mindestens ein Wesen gibt, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, und dass dieses Wesen der Mensch oder, wie Heidegger sagt, die menschliche Wirklichkeit ist. Was bedeutet hier, dass die Existenz der Essenz vorausgeht? Es bedeutet, dass der Mensch zuerst existiert, sich begegnet, in der Welt auftaucht und sich danach definiert.

Die existentialistische Auffassung des Menschen
Wenn der Mensch, so wie ihn der Existentialist begreift, nicht definierbar ist, so darum, weil er anfangs überhaupt nichts ist. Er wird erst in der weiteren Folge sein, und er wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird. Also gibt es keine menschliche Natur, da es keinen Gott gibt, um sie zu entwerfen. Der Mensch ist lediglich so, wie er sich konzipiert – ja nicht allein so, sondern wie er sich will und wie er sich nach der Existenz konzipiert, wie er sich will nach diesem Sichschwingen auf die Existenz hin; der Mensch ist nichts anderes als wozu er sich macht.
Der Mensch ist, wozu er sich macht
Das ist der erste Grundsatz des Existentialismus. Das ist es auch, was man die Subjektivität nennt und was man uns unter eben diesem Namen zum Vorwurf macht. Aber was wollen wir denn damit anderes sagen, als dass der Mensch eine größere Würde hat als der Stein oder der Tisch? Denn wir wollen sagen, dass der Mensch zuerst existiert, das heißt, dass er zuerst ist, was sich in eine Zukunft hinwirft und was sich bewusst ist, sich in der Zukunft zu planen.

Der Entwurf
Der Mensch ist zuerst ein Entwurf, der sich subjektiv lebt, anstatt nur ein Schaum zu sein oder eine Fäulnis oder ein Blumenkohl; nichts existiert diesem Entwurf vorweg, nichts ist im Himmel, und der Mensch wird zuerst das sein, was er zu sein geplant hat, nicht was er sein wollen wird. Denn was wir gewöhnlich unter Wollen verstehen, ist eine bewusste Entscheidung, die für die meisten unter uns dem nachfolgt, wozu er sich selbst gemacht hat. ich kann mich einer Partei anschließen wollen, ein Buch schreiben, mich verheiraten, alles das ist nur Kundmachung einer ursprünglicheren, spontaneren Wahl als was man Willen nennt.
Jean-Paul Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus? In: J.-P. Sartre, Drei Essays. Ullstein Materialien, Frankfurt, Berlin, Wien 1983, S. 9ff

Darstellung und kritische Auseinandersetzung:
Die atheistische Position von Ludwig Feuerbach:
Der Mensch projiziert sein Wesen und Wünsche auf Gott. Religion ist das Verhalten des Menschen zu sich selbst und zwar so, als ob das eigene Wunschwesen ein anderes Wesen sei. Gott ist ein Bild des Menschen, Projektion, Schöpfung seiner Einbildungskraft. Gott ist damit nur eine Illusion. Das bedeutet: Entfremdung des Menschen mit sich. Der Mensch soll diese Projektion zurücknehmen (Wendepunkt). Wenn Gott nur Projektion des Menschen ist, dann muss die Lehre von Gott, die Theologie, Lehre von Menschen, Anthropologie, werden. Homo homini deus./ Das höchste Wesen des Menschen soll der Mensch sein.
Die Gegendarstellung:
Die Tatsache, dass ein Wunsch vorhanden ist, besagt noch nichts über die Erfüllbarkeit eines Wunsches. Feuerbach kann also nicht folgern, dass Gott deshalb nicht existieren könne, weil er menschlichen Wünschen entspreche. Ein Mensch kann nur projizieren, was in ihm psychisch wirksam ist. Wenn ich von Gott menschlich rede, heißt das noch lange nicht, dass Gott nur etwas Menschliches ist. Wenn Gott ein Wunschwesen ist, so folgt daraus für seine Existenz oder Nichtexistenz gar nichts. Vielleicht ist auch der Atheismus die Projektion des Menschen.
Wieso kommt der Mensch dazu, auf Gott zu projizieren? Nur deswegen, weil er auf die Dimension des Unendlichen (Transzendenz), also auf Gott, angewiesen ist.
Ein Humanismus, der im Namen des Menschen Gott den Abschied gibt, beraubt sich selbst seines tiefsten Grundes und seiner eigentlichen Ermöglichung. Nur wenn der Mensch sich selbst überschreitet, nur indem der Mensch ein Maß über sich hat, wird der Mensch zu seiner eigenen Größe, zu seinem eigenen Wesen kommen.
Der biblische Gott richtet sich nicht nach den Wünschen des Menschen, sondern kann von ihm das Äußerste verlangen.

Die atheistische Position von Jean-Paul Sartre:
Sartre betrachtet den Menschen nicht als ein Wesen, dessen Seinsmöglichkeiten (Essenz) im vorhinein festgelegt sind. Der Mensch ist nicht in dem Sinne, wie die Dinge etwas sind. Er ist vielmehr zunächst ein “Nichts” (Existenz). Er muss sich erst, in beständiger Schöpfung aus dem “Nichts” zu dem machen, was er ist. Bei dem Menschen geht also die Existenz der Essenz voraus. Aus der bloßen Existenz (dem sinnlosen Dasein) erschafft sich also der Mensch. Er entwirft eine Vorstellung seines Wesens (Essenz). Dabei schafft der Mensch eigene Werte – in Verantwortung für sich und für alle. Deswegen ist der Mensch zur Freiheit verurteilt. Der Mensch ist frei. Wenn es Gott gäbe, wäre der Mensch nicht frei. Dann würde Gott bestimmen, wie der Mensch zu leben hat. Nur ohne Gott kann die Selbstverwirklichung des Menschen im freien Entwurf geschehen (Atheismus im Namen der Autonomie).
Die Gegendarstellung:
Sartres Lehre legt dem Menschen eine außerordentliche Verantwortung auf. Welchen Sinn hat diese Verantwortung, wenn man niemandem Rechenschaft abzugeben braucht?
Sein radikaler Freiheitsbegriff übersieht, dass der Mensch nicht ohne jede Vorbestimmung, ohne Voraussetzung absolut frei ist, sondern gebunden an Bedingungen, die seiner Wahl nicht unterworfen sind, wie Hineingeborensein in ein bestimmtes Volk, in ein bestimmtes Geschlecht, eine bestimmte Zeit, Kultur usw. Trotzdem kann der Mensch die Autonomie seiner Person realisieren.
Erst die Anerkennung Gottes eröffnet dem Menschen den letzten Grund und tiefstes Geheimnis seines Menschseins, dem er sich als Geschöpf auch in seiner Freiheit verdankt und vor dem er sich verantwortet. Gerade die Anerkennung Gottes verhindert es, dass über den Menschen verfügt wird, dass man ihn manipuliert; sie stiftet den eigentlichen Grund seiner Menschenwürde und der alle Menschen verbindenden Gemeinschaft und Brüderlichkeit.
Erst die Anerkennung dessen, was Sartre verwirft, ermöglicht, worum es Sartre in seinem Engagement für den Menschen geht.

(Text: Stanko Christi, Wentzinger Gymnysium, Freiburg)

Die schmerzende Wunde der Kindheit

Jean-Paul Sartre wurde am 21. 6. 1905 in Paris geboren. 1907 stirbt Jean-Pauls Vater, und der Großvater übernimmt seine Erziehung. Das Aufwachsen in der “fremden” Familie empfand das kleine Kind als Selbstbehauptung, denn es glaubte, sich der Aufnahme würdig zeigen zu müssen. Es spürte die Beurteilung und fürchtete die Verurteilung. Familiäre Geborgenheit war kein selbstverständliches Geschenk, sondern musste verdient werden. Diese frühkindliche Erfahrung war Nährboden seiner späteren philosophischen Position, menschliche Existenz sei eine Aufgabe, die leistend bewältigt werden müsse.
Die Erfahrungen der Kindheit prägten jedoch nicht allein Sartres philosophisches Verhältnis zur menschlichen Existenz im allgemeinen. Hier wurzeln sein Haß auf die bürgerliche Klasse und seine große Sympathie für benachteiligte und unterdrückte Gruppen der kapitalistischen Gesellschaft. Bis zu seinem Lebensende wird er die Arroganz von Macht und Geld bekämpfen und den Einflußlosen und Besitzlosen engagiert beistehen.
Sein familiäres “Fremd-sein” setzt sich als allgemeines Lebensgefühl in der Schule fort, ja steigert sich, da Sartre glaubt, häßlich zu sein. Er folgt dem Verhaltensmuster seiner Kindheit und versucht erfolgreich, sich Anerkennung durch überragende geistige Leistungen zu verschaffen. Es gelingt ihm, in die Pariser Elite-Hochschule École normale supérieur aufgenommen zu werden, an der er 1929 sein Abschlußexamen in Philosophie ablegt. Hier lernt Sartre seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir kennen, die durch zahlreiche literarische und wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Galionsfigur der modernen Frauenbewegung wird.

Die Philosophie des Existenzialismus

Sartre begründete die Philosophie des modernen Existentialismus. Im Mittelpunkt dieses Existentialismus steht der moderne Mensch in einer von Gott verlassenen Welt ohne überirdische Sinnstiftung. In dieser Lage hat der Mensch im Unterschied zum Tier die Möglichkeit, seine Existenz zu entwerfen bzw. sein Da-sein durch Taten sinnvoll zu gestalten. Dies wird zu einer besonderen Herausforderung vor allem in Situationen, die für den Menschen katastrophal sind. Es sind Grenzsituationen, in denen der Mensch seine bisherigen Werte und Ordnungen nicht mehr als Orientierung wiederfindet. Geworfen werden kann der Mensch in solche Grenzsituationen z.B. durch gesellschaftliche Umbrüche, Naturkatastrophen oder Kriege. Aber auch zwischenmenschliche und existentielle Krisen, sei es nun Trennung, Krankheit oder Tod, stellen den Menschen in diese Bewährungsprobe. Dann ist der Mensch sich selbst überlassen und zu der Freiheit verurteilt, seine Handlungen alleine zu bestimmen. Freiheit ist also für Sartre kein bequem konsumierbares Geschenk, sondern eine unter Anstrengungen zu leistende Aufgabe. Der Ekel vor dem Nichts (Sinnlosigkeit des Da-Seins) und die Angst davor werfen den Menschen in eine Verzweiflung, aus der ihm nur die Tat helfen kann. Das Tragen der Verantwortung für mein Sein beinhaltet zugleich die Verantwortung für das Sein des Anderen. Das Leben des eigenen Da-Seins-Entwurfs nennt Sartre “authentisch”
Freiheit definiert Sartre als die Möglichkeit, sich selbst zu entwerfen. Sie darf nicht mit Ungebundenheit verwechselt werden, die für ihn ein Zeichen von Unreife und Verantwortungslosigkeit ist. Die Freiheit als verantwortungsvolle Gestaltung seiner Existenz gibt der Vergangenheit ihren Sinn. Mit dem Tod ist die Möglichkeit sinnvoller Lebensgestaltung zu Ende. Der Mensch ist dann das, was er vollbracht hat.

Das Lebensende als Triumph einer Philosophie

Im Jahre 1980 nahmen Frankreich und die Welt Abschied von Jean-Paul Sartre. 50.000 Menschen geleiteten seinen Sarg zum Friedhof Montparnasse. Dies wollten die anteilnehmenden Menschen symbolisch verstanden wissen. Neben der Trauer um den Toten wollten sie zum Ausdruck bringen, dass Sartres Vision einer verantwortlichen, engagierten Lebensführung breitenwirksam geblieben ist. Denn die Zeitzeichen standen wieder einmal auf Umbruch. Die Dauerkrise der westlichen Volkswirtschaften mit Auswirkungen wie hoher Arbeitslosigkeit und enormer Staatsverschuldung hatte eine Atmosphäre sozialer Kälte heraufbeschworen. Sozialistische und sozialreformerische Theorien und Politikkonzepte drohten ins Hintertreffen zu geraten. In England und Amerika feierte ein kaltschnäuziger Konservativismus Wahlerfolge. Die Opfer der ökonomischen Krise wurden in der Sichtweise konservativer Politikauffassung zur lästigen Konkursmasse einer notwendigen Modernisierungs- und Umstrukturierungsphase. Die Menschen, die auf dem Weg zum Friedhof Montparnasse dem Toten ihre letzte Ehre erweisen, demonstrieren gleichzeitig im Geiste Sartres gegen den Geist der Zeit. Verantwortung für die eigene Existenz ist immer auch Verantwortung für den anderen, zumal dann, wenn seine Position eine schwache ist. Dies wollen die Trauernden der Macht ins Gewissen schreiben. Sartre wird zu Grabe getragen. Doch die Philosophie des Engagements lebt weiter.