Gewalt in den Religionen
Zur Funktion des Sündenbockmechanismusses

Der so genannte „Sündenbockmechanismus“ hat in der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung eine nicht zu unterschätzende Bedeutung.
Zunächst zeichnet er sich durch eine starke Ordnungsfunktion aus: Die Frage nach der Schuld wird eindeutig geklärt und sie liegt immer bei dem Opfer; die Verfolger, die Gemeinschaft dagegen stellt immer die Seite der Rechtschaffenden dar, die durch die Opferhaltung geeint werden.  Das ist die Bedeutung des Mythos, der die traditionellen Rollenverteilungen innerhalb einer Gemeinschaft fest schreibt.
Die Bibel hat in diesem Sinne einen entmythologisierenden Sinn und deckt die ungerechte Gewalt auf: sie stellt die Geschehnisse parteiisch aus der Opferperspektive dar.
Beispiele dafür finden sich sowohl im NT, als auch im AT.Im Evangelium nach Johannes heißt es:„Aber das Wort sollte sich erfüllen, das in ihrem Gesetz steht: Ohne Grund haben sie mich gehasst.“ (Joh 15, 25)
Im Gegensatz zu der Vorstellung, dass erlittenes Unglück die Strafe für unrechtes Handeln sei (besonders deutlich bei Ijob, darauf gehe ich noch ausführlicher ein), wird hier eindeutig und klar die Perspektive gewechselt: nicht das Opfer trägt die Schuld, die Verfolger haben sich mit ihrem als gerecht ausgegebenem Eifer selbst ins Unrecht gesetzt. Das Opfer ist gerechtfertigt.
In den Anmerkungen der Johannesstelle wird auf Psalm 69,5 verwiesen. Dort heißt es:„Zahlreicher als die Haare auf meinem Kopf sind die, die mich grundlos hassen. Zahlreich sind meine Verderber, meine verlogenen Feinde. Was ich nicht geraubt habe, soll ich erstatten.“
Auch hier werden die Ereignisse aus der anderen Perspektive wahrgenommen und geschildert: Aus der Perspektive des unschuldigen Opfers. Der Sündenbockmechanismus entlarvt sich in der Konsequenz dieses Verständnisses, des biblischen Verständnisses, als der willkürliche Mord an einem unschuldigen Opfer. Wenn diese zu Grunde liegende Struktur aber aus der Tiefe des Handelns deutlich geworden ist, dann verliert der Sündenbock seine gemeinschaftsstiftende Funktion, seine ordnende Rolle bei der gesellschaftlichen Konzeption, mithin seinen Sinn. Niemand kann sein Handeln als gerecht hinstellen, wenn die ungerechten Strukturen der Tat deutlich sind.
Ein ganz besonders deutliches Beispiel für diese entmythologisierende Funktion biblischer Berichte findet sich im Buch Ijob.Auch hier wird zunächst die Gewalt, die angeblich von Gott ausgeht, die Strafe, die Ijob erleiden muss, rückblickend gedeutet und gerechtfertigt. Die Deutung der Freunde, mit denen sich Ijob streitet, ist einfach: Wen das Unglück trifft, der MUSS Schuld haben.. Ijob muss nicht nur auf die Unterstützung und den Trost seiner Freunde verzichten, er muss sich auch ihrer Selbstgerechtigkeit erwehren, mit der sie ganz selbstverständlich ihm, dem Opfer, die Schuld an der Gewalt zusprechen. Diese rückblickende „self-fullfilling- prophecie“ ist Menschen verachtend und verstellt den Blick auf die Unschuld des Opfers. Ijob kann argumentieren und sich rechtfertigen – er hat keine Chance. Jedes Wort verstärkt in den Augen der Freunde seine Schuld. Das ist der unzerstörbare Zirkelschluss, aus dem es kein Entrinnen gibt. Die Ursachen dieses zerstörenden Werturteils liegt in der Grundstruktur des Menschen selbst. Der Mensch strebt nach Identifikation mit dem anderen. So ist auch der Wohlstand des Ijobs zunächst Ursache für Anerkennung und Akzeptanz. Da der Mensch aber letztlich in seinen negativen Handlungen angetrieben wird von der Angst um sich selbst, von der Angst, zu kurz zu kommen, schlägt die Anerkennung um in Neid. Und sobald sich eine Schwachstelle zeigt, die den Sturz des Anderen möglich erscheinen lässt und somit anscheinend den Weg frei macht für das eigene „Glück“, lässt sich der Mensch zu unmenschlichem Handeln hinreißen. In diesem unmenschlichen Handeln aus der Angst um sich selbst liegt aber die Ursache  für das Grundproblem des menschlichen Miteinanders. Dass die Organisation dieses Miteinanders aber auch mit Hilfe des (ungerechten) Sündenbockmechanismusses erfolgt, habe ich oben gezeigt. Passend dazu heißt es im Buch der Weisheit:„Doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt…“ (Weisheit 2.24)
Die Wahrheit des Sündenbockes lautet demzufolge: Die Gewalt ist willkürlich, die darauf aufbauende „Ordnung“ ungerecht.
Auf Gott beruft sich also ausschließlich das Opfer zu Recht.
Die Ankläger, die Freunde Ijobs, werden von Gott zur Rechenschaft gezogen, Ijob aber soll für sie beten.Das ist der Ansatz in der Bibel, der ein Ende der Gewalt möglich erscheinen lässt: Das Ende der Rache ist das Ende der Gewalt.
Es geht darum, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, wie ihn der Sündenbock immer nur weiter fortschreibt.
Der Akt der Vergebung ist aber ein aktiver – er kann nicht passiv bleiben. Ijob kann nicht ruhig bleiben, er ist unruhig. Vergebung heißt nicht: das Ertragen von Ungerechtigkeit, sondern das Demaskieren. Daher fügt sich Ijob nicht in sein Schicksal, er streitet mit seinen Freunden und steht auf gegen die so übermächtig erscheinende gesellschaftliche Vorstellung von Gerechtigkeit. Daher stellt er sogar das Gottesbild der Freunde in Frage:„Nun aber seht, im Himmel ist mein Zeuge, mein Bürge in den Höhen. Da meine Freunde mich verspotten, tränt zu Gott hin mein Auge.“ (Ijob 19, 25 f.)
Dafür steht auch der Opfertod Jesu ein. In Lukas 23, 34 sagt Jesus sterbend am Kreuz: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“
Jesus hat in seinem Leben nicht weniger getan, als die ungerechten Strukturen aufzubrechen und deutlich zu machen, die aus Opfern Täter machen wollen. Damit entlarvt er natürlich auch die eigentlichen Täter. Am Schluss steht aber nicht eine neue Drehung der Gewaltspirale, am Schluss steht sein Aufruf zu (aktiver) Vergebung. Vergeltung macht aus den Opfern Täter und neue Opfer und zementiert damit die Gewaltspirale. Darum aber genau geht es: den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen.
Von diesem Ansatz aus ist jedes religiös-fundamentalistische Treiben in der Welt als gegen Gott gerichtetes Handeln zu durchschauen.
In seinem Vortrag „Religion und Gewalt – Christentum und Gewalt?“ sagt Dr. Jürgen Bründel dazu:
„Übernehmen denn nicht gerade die Christen untereinander und gegenüber den so genannten Ungläubigen immer noch die allbekannte Verfolgerrolle? Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die … Terroranschläge vom 11. September und die meiner Ansicht nach nicht weniger terroristische Reaktion der USA zurück kommen. Was beide Seiten als austauschbar erscheinen lässt, ist: die nur vermeintlich plausible Rechtfertigung der jeweiligen Gewaltanwendung.“
Bründl definiert „Gottesferne“ in diesem Vortrag als „gewalttätigem Beharren auf einem selbstgerechten und rücksichtslosen Eigensinn.“ Das ist die Triebfeder von Gewalt und religiösem Fanatismus, weil sie egozentrisch ist.
„Heilige Kriege“ firmieren unter diesem Trugbild der höheren Gerechtigkeit. Sie verdecken den beschriebenen Gewaltmechanismus, stempeln die Opfer zu Tätern und vereinen die wahren Täter auf dem Boden einer Gerechtigkeit verachtenden Schein-Gerechtigkeit.
Diese Paradoxie ist nicht auszuhalten und zwingt (zumindest oberflächlich) zu einer Entscheidung: Entweder Opfer oder Täter – für Grautöne, Differenzierung, Nachdenken und Diskussion bleibt da kein Raum.
Deshalb ist diese Vorstellung von Gerechtigkeit, wie der Sündenbockmechanismus sie festschreiben will, intolerant, autoritär und diktatorisch. Zitat Bründl:
„Wenn man allerdings den neo-mittelalterlichen Kreuzzug der Buschadministration … betrachtet, wenn man sieht, wie ganze Länder zu Terrorstaaten und zur „Achse des Bösen“ erklärt werden, dann muss man glauben, gerade wir Christen hätten die Botschaft vom stellvertretenden Leiden des Gottessohnes, von der Heiligkeit und Heilsamkeit der Vergebung immer noch nicht verstanden. Und in der Tat, dieser Anschein trügt nicht. Denn auch wir wissen nicht – wissen es immer noch nicht! – was wir tun.“

Bei diesen Ausführungen beziehe ich mich auf:

  • Vortrag von Frau Deninger-Polzer vom 19.11.2002 zum Thema „Gewalt in den Religionen“
  • Vortrag von Dr. Jürgen Bründl zum Thema: „Religionen und Gewalt – Christentum und Gewalt?“ vom 14.11. 2002 in Fulda
  • Peter Knauer, Der Glaube kommt vom Hören, Styra, Köln 1978